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Monatsberichte über Kunst und Kunstwissenschaft — 3.1903

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Pudor, Heinrich: Die bildende Kunst in Norwegen
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https://doi.org/10.11588/diglit.47725#0390

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319

Weise zur Anwendung. Diese Stabkirchen und
Holzhäuser entsprechen ihrem Zwecke, sie sind im
Charakter des Materials gedacht und gebaut, und
sie erfüllen die Gesetze der Schönheit und der
Harmonie. Die offenen Säulengalerien beispiels-
weise sind vom streng-künstlerischen Standpunkte
aus, also abgesehen von der malerischen Wirkung,
die sie ausüben, als durchaus schön zu bezeichnen
und den Loggien der besten italienischen Renais-
sancezeit — mutatis — mutandis — zu vergleichen.
Das Gleiche gilt von der Art, wie die Dächer über-
einander aufsteigen und übereinander vorragen,
dieser altnorwegische Holzarchitekturstil steht be-
züglich seiner Dach-Architektur sogar einzig da.
Und am meisten bewundernswert bleibt die Art,
wie der Stil und das Gebäude aus dem Charakter
des Holzmaterials heraus entwickelt ist. Bekannt-
lich gehört es zu den obersten Kunstgesetzen, aus
dem Charakter des Materials heraus die Stilform
zu finden. Und ähnlich verhält es sich mit den alt-
norwegischen Glockentürmen, Torbauten, Bauern-
höfen, Vorratshäusern, Räucherstuben etc. Vieles
davon kommt natürlich nicht nur auf Rechnung
Norwegens, sondern der skandinavischen Länder
überhaupt, manches auch wurde in Schweden ähn-
lich oder sogar besser getan, aber es bleibt doch
sehr viel, im Besonderen die eigentliche sogenannte
Stabkirche, was auf alleinige Rechnung Norwegens
kommt. Auch die Ornamentik ist bewundernswert.
Auch sie ist sowohl künstlerisch durchaus be-
friedigend, als auch streng-national. Unter diesen
Holzschnittornamenten kann man unterscheiden
zwischen den Rundschnitt- und den Kerbschnitt-
ornamenten. Letztere sind uralt, ihre Vorbilder
gehen bis auf die Steinzeit zurück, zugleich sind die
Vorbilder dieser, wie die der späteren Kerbschnitt-
ornamentik der Natur des Landes entlehnt und durch-
aus national. Im Besonderen ist es die Musterung
der Farrnkraute, des Fichtenzweiges, des Tannen-
zapfens, die die natürlichste Vorlage für die Holz-
schnittornamentik abgab: überhaupt ist der nordische
Föhrenwald die Schatzkammer für die Kunst-
ornamentik aller Zeiten in höherem Masse gewesen,
als man gemeinhin annimmt.
Indem aber nun diese alte norwegische Holz-
architektur auf der einen Seite so sehr national,
auf der andern Seite so sehr künstlerisch gewesen
ist, wird die moderne norwegische Architektur gut
tun, aus derselben ihre Lehren zu ziehen. Gerade
das, worauf es am meisten ankommt, national zu
bauen, den Erdgeruch — und zwar lokal differenziert
— auch in der Architektur zur Entwicklung zu
bringen, können die modernen norwegischen
Architekten von jener alten Holzarchitektur lernen.
Denn gerade daher, dass die norwegischen Architekten
späterer Zeit ihr eigenes Land und ihre eigene.
Natur übersehen haben und fremde, ausländische
Kunstformen übernommen haben — oft genug sogar,
ohne sie nur einigermassen zu nationalisieren und
zu individualisieren — kommt es, dass die spätere
norwegische Architektur für eine norwegische Kunst-
geschichte so wenig in Betracht kommt. Alles,
was in diesen Jahrhunderten in der norwegischen
Architektur, namentlich in der Profanarchitektur

geschaffen wurde, ist von geringem Belang für die
nationale Kunstgeschichte. Die betreffenden Denk-
mäler haben den Wert von Kopieen, von Photo-
graphieen, von Abdrücken, aber nicht von Originalen.
Erst in der allerletzten Zeit scheint sich auch in
der norwegischen Profanarchitektur wieder ein
nationaler Architekturstil zu entwickeln — dies Mal,
wie es die moderne Zeit mit sich bringt, nicht im
Holz, sondern im norwegischen Steinmaterial, im
Granit.
Selbst das, was von den Monumentalbauten
Christianias aus den letzten Jahrzehnten datiert, ist
künstlerisch strenggenommen ziemlich belanglos.
Das Stortinghaus (1861—66) hat mehr Kuriositäten-
als künstlerischen Wert. Das Gebäude der Frei-
maurerloge (von H. Nissen 1893 vollendet) vermag
strengeren künstlerischen Ansprüchen durchaus
nicht zu genügen. Der kostbare sogenannte Tostrup-
gaard, ein modernes Geschäftshaus ist in schlechtem
Sinne barock. Was das von Henrik Bull gebaute,
1899 vollendete neue Nationaltheater betrifft, so hat
man hier wenigstens Originalität erstrebt. Aber
die organisch begründeten künstlerischen Gesetze
sind aller Orten übergangen, besonders in der regel-
losen Fassade. Besser ist das, was auf dem Gebiete
der Privathaus- und Geschäftshausarchitektur in den
letzten Jahren geschaffen wurde. Schon die beiden
Giebelhäuser Karl Johans Gade No. 14 und No. 12
(Nationalhotel) aus den Jahren 1897 und 1899 sind
ansprechend und in manchen Teilen originell. Noch
mehr erwähnenswert ist das im Jahre 1901 gebaute
Haus Karl Johans Gade No. 4. Das Material ist
Kalkstein. Die Rustica ist bis ins oberste Stockwerk
fortgesetzt. In der Mitte ist das Haus von einem
Giebel gekrönt, dem unten im 1. Stock ein mit
Skulpturen verzierter Balkon das Gegengewicht
bietet. Die Fenster schliessen im 1. und 4. Stock-
werk rundbogig, im 2. und 3. gardinenbogenartig
ab. Im Erdgeschoss sind die Entlastungsbögen der
ebenfalls rundbogig abschliessenden Fenster mit
Simsen profiliert, die allerdings zu dicht unter
den Balkon zu liegen kommen und von diesem
gedrückt werden. Im Allgemeinen sind hier
Reminiscenzen an moderne Stockholmer Bauten und
an die dänische romanische Architektur in Wirksam-
keit getreten, aber auf der andern Seite trägt das
Gebäude doch zugleich den Stempel norwegischer
Eigenart, zumal was die Steinskulpturen angeht.
Das bedeutendste und schönste moderne
Architekturwerk Christianias aber ist das neue Ge-
bäude der Sparbank. Hier ist das Material Granit
und Kalkstein. Der Mittelbau zeigt Rustica, die
Seitenflügel feinbehauene Granitquader. Der giebel-
bekrönte Kernbau ist mit einer Säulenloggia ge-
schmückt, unter der sich drei grosse, rundbogig ab-
schliessende Fenster befinden. Bemerkenswert sind
auch hier die Steinskulpturen mit Benutzung alt-
nordischer Motive.
Schon an diesen Gebäuden sieht man, dass die
Zukunft der norwegischen Monumental-Achitektur im
Granit- und Kalksteinbau liegt. Vordem hatte man,
obwohl gerade Norwegen so reich ist an edlen
Gesteinen, in Backstein oder in Putzstein gebaut.
Zweitens werden die norwegischen Architekten gut
 
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