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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 17.1909

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Heft 1
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Lederer, Victor: Ballett-Reform
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https://doi.org/10.11588/diglit.26460#0042

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Ballett-Reform.

Puppenfeebayer. „Verbäuert", wie Spötter sagen. Jn-
wieweit? — I-a rsobsrolis äs la xatsrnits sst iatsr-
äits .... Hm, hm . .. . Vor acht Jahren in Berlin
zur wenig gelungenen Uraufführung gebracht. Dann
gespielt und — vergessen. Jn Wien von Mahler abge-
lehnt. Angeblich aus Rancune. Nach einem andern
angeblich auö Verehrung für den Meister der Fleder-
maus und des Zigeunerbaron. Was zu verstehen wäre.
Sei's so oder so, eö war ein Aschenbrödelschicksal in
moll....

Und der Jnhalt des Werkes? — Symbolisch'? Nicht
unbedingt. Aber vieldeutig. Modern. Daö Lausmädel
eines Warenhauses als Aschenbrödel. Zurückgesetzt. Von
der Mutter in die Stube verbannt. Und doch auf den
Maskenball gehend. Auf den Maskenball des Lebens,
dort geseiert, geliebt, verschwindend. Durch den ver-
lorenen Schuh wiedererkannt, erhöht, geheiratet. Chefin

des Warenhauseö.... Ein Aschenbrödelschicksal in äur-

Sozial gedacht? - Ach nein. Eher doch noch symbolisch.
Denn dieses Aschenbrödel, daS lange Jahre seitab stand,
dieses Stiefkind der Wiener k. k. Hosoper — war daö
nicht die Tanzkunst selbst? ....

Die älteren Schwestern, Musik und Malerei, durften
um die Palme des Fortschritts ringen, nur Aschenbrödel,
das Ballett, nicht. Fanchon und Uvette bekamen alles,
nur Grete, die Stiesschwester (also die Namen in dem
Kolman-Regelschen Buche!) wurde von der Mama Putz-
macherin (es könnte auch der Papa Ausstattungs-
ches sein) vernachlässigt. Da kommt der neue Direktor
des Warenhauses „Zu den vier Jahreszeiten" (eö kann
ebensogut ein neuer Theaterdirektor sein) und wählt
die Verachtete zu seinem Liebling. Ja mehr als das:
macht sie zu seiner Frau, juft wie Felix von Wein-
gartner dem biölang vernachlässigten Ballett Herz und
- Hand geliehen. Sein Herz, das Fürsprache hielt bei
der Jntendanz, sodaß diese 8O OOO Kronen für die
Ballettresorm bewilligte. Seine Hand — die den Diri-
gentenftab hielt....

Man denke: der Hofoperndirektor als Ballett-
dirigent! Und eine Ballettausstattung von solcher Koft-
spieligkeit, daß auf jede Minute Spieldauer IOOO Kronen
kommen! Welch ein Umschwung gegen ftüher, wo der
sonst so geniale Mahler das Ballett ziemlich geringschätzig
behandelte! Kein Wunder, daß die Balletteusen vor
Rührung geweint haben, als (waö erst in der letzten
Probe geschah) der Operndirektor selbst an ihre Spitze
trat. Ein noch nicht dagewesener Fall. Und ein guter
Trick zugleich. Denn gerade jene Damen, an deren
Widerstand sonst vielleicht die Ballettreform gescheitert
wäre, gingen nun mit wahrer Begeisterung für die neue
Richtung ins Zeug. Was keine Kleinigkeit bedeutet:
hatte doch daö oorxs äs ükUIst in den hundert Proben,
die der PremiSre von „Aschenbrödel" vorangingen, nicht
mehr und nicht weniger lernen müssen, als eine voll-
ständig neue Kunst.

Eine neue Künst: neu in ihren Voraussetzungen,
neu in ihren Effekten. An die Stelle des kurzen Tüll-
röckchens sind lange Gewänder getreten, Salonroben und
Serpentüiröcke, fallweise von solcher Weite, daß der halb-
kreiöförmig gehobene Saum noch um den Hals ge-
schlungen werden kann, was sehr graziöse Bewegungen

ergibt. Gleichzeitig fielen natürlich die abscheulichen Sand-
uhrtaillen und mußten niedrigen und ganz niedrigen
Miedern das Feld räumen. Auch von unten wurde sür
„Erhöhung" der Grazie gesorgt: der Salontanzschuh,
der Stöckelschuh, der der Gestalt einen zwanglosen
Schwung nach auswärtö gibt, kam zur Alleinherrschaft.
Der alte, sogenannte weiche Ballettschuh ohne Absatz
mit der brciten Spitze für den Fußspitzentanz wanderte
zum alten Eisen. DarauS folgt von selbst, daß nicht
mehr auf den bloßen Brettern getanzt werden muß,
sondern ein leichter Teppich die Bühnenausstattung ver-
vollftändigen darf. Auch der Kopsschmuck änderte sich:
man sieht die größten Hüte aus den Modejournalen
auf der Bühne. llberhaupt gleicht das oorxg äs ballst
in „Aschenbrödel" einer lebenden Modeausstellung. Die
Moden aller Zeiten sind ftilgetreu vertreten: Direktoire
(vorwiegend!), Empire, Biedermeierisch-Altwien, Rokoko,
Krinoline. Allcs da. Jede Tracht niit ihren Attributen,
Stöckcn und Schirmen. Strengfter Realismus von
nahezu historischer Treue. Die mit den Brettern, die
die Welt bedeuten, vernagelte „Phantastik" (alias: Jgno-
ranz des Garderobenmeifters und Regisseurs) ist ab-
geschafft. Auch der Bühnenrahmen hat Stil. Die
neuen Kulissen (richtiger Prospekte), die Maler Löffler
entworsen hat, sind ganz modern, ohne Firlefanz,
großzügig. Farbenpracht, Architektonik, Kunstgewerbe.
Eine Reformbühne von bewußtcm sezessionistischem
Zwangsstil....

Jn dieser neuen Schale nun der neue Kern: der
reformierte Ballettanz! Wie ist er so einfach und doch
so schwer geworden. Kein Fußspitzengeschiebe, keine
Körperverrenkungcn, keine Grotesksprünge mehr. Nein.
Die Kunst des Schwebens dominiert. Mit der Länge
des Rockes sind die Körperbewegungen kleiner, graziöser,
vielsagender geworden. Weicher, menschlicher. Was ver-
standen z. B. unsere Ballettdamen in manche ganz kleine,
mehr zitternde als pendelnde Leibesbewegungen hinein-
zulegen, die einem zur vollendeten Grazie verseinerten
Salon-Kake-Walke glichen. Welche Jugendsrische in den
Walzern! Welch heroischer Zug in den Empiretänzen
mit der Schleppe über dem Arm! Welcher L>chick in dem
Jonglieren der Knickerchen bei den Krinolinentänzen!
Und vor allem, welche Grazie im Schreiten! Ich
sah zum erftenmal in meinem Leben ein Ballett, von
dem ich den verehrten Leserinnen sagen kann: „Sehet
und - lernet. Jhr könnt eö in allen Lebenslagen
verwenden."

Jch zähle keineswegs zu den „Unbedingten" des
Direktors Weingartner. Jm Gegenteil. Manch schärseres
Wort habe ich nicht vermeiden können. Daß aber die
Ballettresorm eine wirklich große Tat ist, fteht für mich
sest. Nicht nur eine große Tat sür Körperkultur und
Kunsterziehung, sondern auch für die Kunst selbst. Man
darf es ruhig sagen, daß erst durch Weingartner (und
Ballettmeister Haßreiter, der die Wünsche seines Direktors
in die Tat umsetzte) das Opernballett wieder eine Posi-
tion im Kunstleben errungen hat. Eine Position, der-
zufolge aus dcn Bluff berechnete Trickö einzelner Ge-
schäftögrößen ä. Ia Duncan, Madeleine, I'uIIsr st tutti
M-mti fthr bald verblassen dürften. Denn was bei
allen diesen nur ein „ich möchte", ein Versuch mit un-
 
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