Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 17.1909

DOI Heft:
Heft 4
DOI Artikel:
Kassner, Rudolf: Der Helfer
DOI Artikel:
Dehmel, Richard: Kunst und Volk: neun Selbstverständlichkeiten, die aber doch der Erklärung bedürfen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.26460#0154

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Der Helfer.

ihnen, nicht einen einzigen. Und auch darin liegt doch
nichts Unmögliches? Wenn es nur einen einzigen
Zweifler gegeben hätte an ihm, dann allerdings würde
manches sich anders geftaltet haben. Aber es gab auch
diesen einzigen Iweifler nicht. Sagen Sie selbst, ob so
etwas ganz unmöglich ift oder nicht?

Jch: Setzen wir wenigstens den Fall, daß so etwas
möglich sei.

Er: Meinetwegen. Doch hören sie weiter! Diesem
guten, hilfreichen, gewiß glücklichen, in den Augen der
andern durchaus vollkommenen Menschen sällt nun
plötzlich ein, während er vielleicht seinen üblichen Nach-
mittagöspaziergang macht — alle Leute kennen und
grüßen ihn — ich sage, diesem Wohltäter fällt nun ganz
plötzlich ein: Jetzt hils dir sclber! Nicht mehr als
das, aber ganz genau das: Jetzt hilf dir selber!
Kann ihm nach diesem Einsall noch etwas anderes ein-
sallen? Jch meine natürlich nicht nur heute, sondern
auch morgen, übermorgen, in zehn Jahren? Nein.
Jch sage: eS ist sein letzter. Unbedingt. Und er hat
ihn gleichsam an seinem letzten Tage. Man könnte
sagen: Auf seinem letzten Spaziergang kam ihm dieser
Einfall: Jetzt hils dir selber! Konnte er seinen
Spaziergang noch wiederholen? Nein. Doch was wollen
Sie sagen?

Jch: Wenn er den anderen geholsen hat, so wird
cr schließlich auch sich selber helfen können.

Er: Warum setzen Sie nicht gleich hinzu: mit der
Ieit? Nein, Sie sind ein praktischer Mensch, dcm viel-
leicht manches Verrückte, aber niemals das Allerverrück-
tefte einfallen kann. Sehen Sie, wenn er sich auch
nur mit einem einzigen von den vielen Menschen, denen
er geholfen hatte, verwechseln könnte, einem einzigen,
sage ich, nun dann wäre ihm schon geholsen. Aber
das kann er nicht, gerade das nicht. Sonst vermochte
er ja alles, zum mindesten sehr, sehr viel. Aber das ...
Er kann sich einfach nicht dazuzählen, zur Gesamtsumme
schlagen, er bleibt übrig, sich selber, Er, Er.. . Von
dem außer seinen Wohltaten gar nichtö bekannt ist.
Und darum hat er plötzlich diesen allerverrücktesten Ein-
sall: Jetzt hils dir selber! Es ist sein letzter, seien
Sie versichert! Und er hat ihn gleichsam an seinem
letzten Tage. Wenn er nur nicht gerade diesen Einsall
gehabt hätte, gerade diesen, möchte man sagen! Er
hätte noch weiter Gutes tun, noch vicl niehr Menschen
bis zu seinem Tode und dann ein schönes, ein würdiges
Begräbnis haben können. Ja, ich wage zu sagen, er
hätte noch allen Menschen Gutes tun können, allen,
allen, bis zum Jüngsten Tage. Warum hätte er nicht
bis zum Jüngsten Tage leben können?! Ein Wunder?!
Meinetwegen.... Aber da kommt diesem Urnarren
plötzlich, ganz unvermittelt bei einem Spaziergang nach-
mittags, sagen wir, um 5 Uhr dieser beispiellos ver-
rückte Einfall: Ietzt hilf dir selber! Jch bin fest
überzeugt, daß er in diesem Augenblicke allen Menschen
das Gute, das er ihnen getan, verwünschte, daß er die
Menschen, die er geliebt hatte, jetzt haßte, wütend haßte,
cinen Augenblick lang... Es ist scin letzter Tag,
ganz gewiß! Jetzt hilf dir selber! Er kann von
nun an nichts mehr anderes denken. Jeder Tag, den
er mit diesem Gedanken lebt, ist sein letzter.... Die

anderen Menschen sind ihm jetzt ganz gleichgültig, er
muß sich ebcn selber helfen, jetzt, er muß, muß . . . .
Oder....

Jch: Oder?

Er: Oder? Ja, was wollte ich nur sagen? . ...
Oder er muß sich aus dem Staube machen, sosort, er
muß auökneisen wie ein Dieb, wenn alle schreien:
Haltet ihn, haltet ihn! Er muß einsach von heute an
weg scin, nicht mehr da sein, sich glcichsam auslöschen oder
sich irgendwo wirklich aufknüpfen am Fensterkrcuz oder
an einem Baum vor der Stadt beim Teich.... Muß
er das nicht? Ach, cr muß wohl! Er muß wohl!

unst Uttd Volk.

Neun Selbftverständlichkeiten, die aber doch
der Erklärung bedürfen.*

1. Die Kunst befteht in den Kunftwerken, die
nicht sürs Volk geschassen sind, sondern sür Gott
und die Welt, sür die Seele der Menschheit oder
auch der Blumen aus dem Felde, sür Alle und
Keinen, fürs ewige Leben oder für sonst eine
grenzenlose Größe.

Das soll heißen:

Es werden sehr viele Kunftwerke gemacht, aber recht
wenige machen die Kunst auö. Kein Kunstwerk mehn
den Kunstbeftand, durch das der Urheber irgend ein
begrenztes Volk zu irgend einer bestimmten Ieit sür
irgend ein bekanntes Iiel ausbilden will oder wollte.
Die Volksbeglücker, die Volköerzieher, die Volksveredler
und — verbilder mögen ein solches Werk mit Fug und
Recht zu ihrer Ieit den Leuten anpreisen; aber sobald
jenes Iiel erreicht oder aber als irrig erkannt ist, verfällt
solch Werk der Vergessenheit oder bestensalls der Kunft-
geschichte, ist überflüffig und leer geworden, hat keinen
belebenden Jnhalt mehr. Freilich befaßt sich alle Kunst
mit dem umgebenden Volks-und-Ieitgeift als einem Teil
ihres Stosfbeftandes; aber nicht Das ist ihr Lebensbestand,
sie geht nur auö von dieser Umgebung, und ihr Iiel
schwebt grade im Unsaßbaren. Beständiges Leben enthält
nur die Kunst, die jederzeit und immerfort hinaus ins
Unbekannte weist, wie die Blumen blühen inS Blaue
hi'nein. Und solche Kunft schafft nur der Künstler, der
fürs Volk ein ewiges Rätsel bleibt. Er kennt nur Eine
Bestimmung des Schaffenden: die Gesetzgebung für das
Unbestimmte. Er sieht nur Eine Grenze des Schaffens:
die Formlcgung für das Unbegrenzte. Denn er ahnt
nur Ein Iiel der menschlichen Bildung: die Gestaltung
eines vollkommenen Wesenö.

2. Der Kunst gegenüber gibt es nur zwei
Arten Volk: das menschenwürdige und das
hundögemeine.

Daö heißt:

Vollkommene Kunft wirkt nicht auf Jedermann als
vollkommen, sondern höchstens aus solche Seelen, die
selbst den Trieb zur Vollkommenheit haben und fremde
Seelenkraft mitsühlen können. Hierzu aber verhilft kein

" Aus Dchmels Gesammelten Werken, Bd. HIII (S. Frscher.
Berlin).

IZv
 
Annotationen