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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 17.1909

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Heft 2
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Ludwig Finckh: Aus Rapunzel
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[Besprechungen und Notizen]
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https://doi.org/10.11588/diglit.26460#0085

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Aus Rapunzel von Ludwig Finckh.

wahr, es sah aus wie ein blühendes Vogelneft am
Boden, in daö die Welt vergessen hatte, hineinzutappen.
Aber der lautefte Grünschnabel in dem Neft war Konrad,
voll unermeßlicher Iwitscherluft und Nesthockerfreude,
ein Zaunkönig und Wiesensprosser in einer Person. Sein
Haus schloß das Tälchen zu Häupten ab, und der
ganze Jnhalt deö Hauses verfolgte Konrads Bach- und
Wiesentaten mit verschwiegenem Stolze. Der Znhalt
deö Hauses beftand aus Konrads Mutter, Vater, Groß-
vater und Urahnele.

Dem Urahnele gehörte daö Fenfter gerade aufs Tal
herunter; ein alter Rosenstamm ftieg zur Seite herauf
und verfteckte daö Fenfter halb unter Blüten. Es war
ein fteinalteö, gebücktes Müttcrchen an einem Stccken und
mit einem einzigen Iahn, der auf Konrad den Eindruck
eines Heiligtums machte. Wenn er müde vom Spielen
war oder am Abend vor allzu lautem Tagewerk dcn
Schlasheuler bekam, eine mißmutige Stimmung, die
ain besten in den Kissen verslog, so kletterte er wohl
auf der Urahne Schoß und bat: „Ahne, laß mich auch
dein Bein sehen." Das Ahnele öffnete geduldig den
Mund und wies ihm den einzigen Iahn, den er nicht
müde wurde, anzustaunen. Das war anders als wie
es die andern Lcute im Munde hatten. Daß so mitten
auö einem Mund ein gelblicher Knochcn wachsen konnte,
schön geschliffen und glänzend wie ein alter Marmel-
stein oder wie das Meerschaumftück an des Vaters
Tabakspfeife, das war sabelhaft; und seine Urahne hatte
den Zahn. Er war mächtig stolz darauf und sührte
seine Kameraden, wenn er sich großmachen wollte, vor
der Ahne freundliches, verrunzeltes Antlitz. Das war
sein Spielzeug, und die Gute machte dem Urenkel willig
den Nußknacker. Sie muß wohl auch auf ihre Rechnung
gekommen sein dabei; denn das Alter hat oft Genüge
an Dingen, die die Jugend nicht achtet, an Augen-
glänzen und offenen Mäulern. Der Großvater konnte
das Spiel fteilich nicht leiden und jagte den Sprossen
sort, wenn ers merkte: „Wart, Lausbub, du kommft
in die Höll und mußt auss Glufenhäfele sitzen," eine
Drohung, die Konrad einen Hcidenschreck einflößte.

Sonst war der Großvater ein Mann, mit dem sich
reden ließ und der auf alle Fragen eine Antwort wußte.
Bloß einmal, alö der Bub ihn sragte: „Großvater,
was liegt denn hinter Paris?" sah er ihn ftillverweisend
an und schüttelte den grauen Kopf. Dann paffte er
mahnend zwischen einer Rauchwolke heraus: „Kind,
grüble net. Er merkte wohl, daß ein unruhiger Geist
in dem jungen Kopse scblief, und wollte ihn nicht
wecken; wenn erst einer danach ftagt, was hinter den
Dingen liegt, so sängt scine Zcit an und das Alter
ift abgedankt. Er wußte von der Welt genug, als
daß er an seinem Lebensabend noch viel mehr von
ihr erfahren wollte; er sperrte ein Törlein ums
andre zu und blicb am Fenfter bei der Urahne sitzen.
Sein Dorf und sein Haus und vielleicht ein Platz an
der Kirchhofmauer lagen ihm näher als die Welt hinter
Paris. Einmal, alö die Mutter aus dcr Ieitung vorlas,
wie sie an Winterabenden tat, nahm er die Pseife auö
dem Mund, da sie von Schleswig-Holstcin zu lesen
anfing, und sagte mürrisch: „Lies das net, Bärbele;

es ist so weit weg."

* *

*

Jft dies nicht wirklich, wie wenn Mörike wieder da
wäre? Nicht, weil eS seine Sprache irgendwie nach-
ahmte, sondern weil es die gleiche Art ift, von der
eigenen Welt so unbekümmert den Pulsschlag abzu-
horchen und mit soviel Liebe zu geben, daß auch das
Kleinste eine Bedeutung gewinnt. WaS im „Rosendoktor",
dem ersten Buch von Finckh, noch rauschhaft schien, das
wird nun in „Rapunzel" sein und still. Eö mag Viele
geben, denen dieses Glück im Kleinen nicht zusagt, wer
aber seine Berechtigung erst anerkennt, der muß sich
ihm hier ganz gesangen geben. Es ist in Wahrheit nur
Rapunzel, diese Jugendgeschichte eines schwäbischen Jn-
ftrumentenmachers und seiner Frau; wie das die grünen
Blättchen kaum über den Erdboden hebt, so gehen auch
hier die Schicksale nicht hoch: aber die Würzelchen sitzen
sest im Erdboden. Nicht, was zwei Menschen Wunder-
liches begegnet, wird erzählt, sondern wie sie auö ihrer
Heimaterde wachsen und ihr verbunden bleiben. Nur
schade, daß das Büchlein (wie Rapunzel) so bescheidcn
klein bleibt, sast nur daS erste Kapitel von einem Roman,
den man gern weiter lesen möchte; so gern, daß man
mit einer leisen Enttäuschung aushören muß. S.

oethe und die Seinen.

Nachdem wir cinmal soweit sind, Goethe den Mcnschen
mchr als den Dichter zu betrachten, kann dieses Buch, das ihn
gleichsam im Schlafrock zeigt, im KreiL der angeerbten und
selbstgeschaffenen Familie, nicht mehr überraschend kommen. Es
konnte sogar cin köstliches Buch sein, wcil Goethes Lebens-
führung als Mann im bürgerlichen Sinn cinc solchc war, daß
er heute gesellschaftlich unmöglich wäre, was immerhin zur land-
läufigen Verehrung des Goethemcnschen ,einen lustigen Kontrast
gibt. Leider ist es ein solches Buch nicht geworden, Ludwig
Geiger bemüht sich treu und ernsthaft, uns ein sympathisches
Bild der Christiane zu zcichnen, die aus einer Liebschaft die
Geliebte, danach Haushälterin und Frau Geheimrat wurde, dann
marschieren August und Ottilie mit ihren Kindern, den sonder-
baren Hagestolzen Wolfgang und Walter auf, und den Beschluß
bilden die eigentlichen Hausfreunde. Diese Darstellung «ollzieht
sich auf fast 400 Seiten und „ermangclt", wie es im Gocthe-
deutsch von lautet — „der notwendigen Frische".

Trohdem hat das Buch, das so recht cin gutbürgerliches
Hausbuch ist, einen wichtigen Vorzug: es ist von einem Vcterancn
der Goethe-Forschung und dem Herausgeber des Gocthe-Jahr-
buchs als „quellenmäßige Darstcllung" geschrieben und verbirgt
in seincr Wcitschweifigkeit eine Fülle interessanter Mitteilungen,
die manche landläufige Dorstellung richtigzustellcn versuchen.
Jn diescr Beziehung ist das Kapitel über Cckermann (das wir
mit Erlaubnis des Verlags abdrucken durftcn. Die Rcd.) sogar
auffällig erregt. Der vielgerühmte Eckermann wird hcftig gestäupt
und in die Ccke gestellt, wohin cr gehört. Wenn es nicht gcrade
von einem Philologen geschähe, könntc man die Strafe ernster
nehmen; aber da nach dem lustigen Hatvany in der „Wiffenschaft
des Nichtwiffenswerten" jeder mit der allein wahren Ansicht die
andern allein wahren Ansichten totschlägt: so wird man seinen
Cckermann nachwievor zur Hand nehmen dürfen. Beffer freilich,
man nimmt den Goethe selber; abcr wenn einmal die Goethe-
Phrlologie ein Meer geworden ist, daraus selbst eine Kohlen-
rechnung noch mit Dcrgnügen herausgefischt wird, so hat dieser
junge Philologe aus dem Hannöverschen immerhin den Vorzug
vor seinen nachgeborenen KollegeN, selber durch vielc Jahre mit
dem alten Goethe auf diesem Meer tägliche Gondelfahrten gemacht
zu haben. Selbst wenn er irrt, irrt er aus erster O,uelle, und
das ist vielleicht doch noch wertvoller für uns, als aus sicbenfach
durchfiltriertem Waffer ein bißchen Wahrheit übrig zu behalten.

Aber ich will darum nicht schmälen; ich habe trotzdem das
ganze Buch mit dem ruhigen Vergnügen durchgelesen, mit dem
man ctwa von Frankfurt nach Basel mit der Bahn fährt. Es
dauert zwar fünf lange Stunden, und eine Tiefebcne ist es auch,
abcr links und schließlich auch rechts tauchen die blauen wunder-

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