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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 17.1909

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Heft 1
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Schaffner, Jakob: Der Kilometerstein
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Lux, Joseph August: Kunstgenuss im Automobil
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https://doi.org/10.11588/diglit.26460#0036

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Der Kilometerstein.

breiteö Waschfrauengesicht; dann war sie ihm gleich-
gültig, manchmal auch zuwidcr. Über ihre Kinder
ärgerte er sich meist und hattc kein Verhältnis zu ihnen.
Eö ging ihnen von ihm auö gut oder weniger gut, je
nachdem cr auf ihre Muttcr gesinnt war.

Aber jetzt fing seine Frau aus eimnal an und sprang
mit der Schüssel in den Händen vom Tisch auf seinen
Leib und von da rückwärs auf den Tisch, wie wen»
sein Leib ein Gummiball gewesen wäre. Sie sah dabei
auS ihrem großen, langweiligen Gesicht gleichgültig
geradeaus nach einem geringen Heiligenbild, das an
der Wand den Nährvater Joseph mit der Lilie dar-
stellte. Wie besessen sprang sie im Pulsschlagtakt auf
seinen Unterleib herab, und gerade ausgericbtet ohne
irgend eine Bewegung flog sie hinterwärts aus den
Tisch hinaus, um sofort wieder auf ihn herunter zu
springen. Das war doch vcrflucht rmd sie sollte das
lassen. War sie verrückt? Oder was hatte er ihr denn
getan? Hatte er sie nicht geheiratet? Was also mehr?
Er war ihr auch treu geblieben und nicht nebenhinaus
gegangen, nicht ein einziges Mal. Und sein Geld
lieserte er immer pünktlich ab, und vertrank nur, was
sie ihm als Taschengeld herausgab. Da sollte sie ihn
doch ungeplagt lassen! Er ließ sie ja auch ungeplagt!

Sein Leib füllte sich allmählich mit Blut, und er
bekam Durst. Sein Gehirn schus sich den Komple-
mentärbegriff zu Durst: auf cinmal trug sein Weib
statt der Hefeschüssel ein großes Glas Bier in der Hand.
Und mit dem Bier im Glas tanzte sie weiter, iin immer
gleichen Jrrsinn vom Tisch aus seinen Leib, und von
seinem Leib aus dcn Tisch, und es ging so gerade und
eben, daß sic nicht einen Tropfen Bier verschüttcte;
daö Bier bewegte sich nicht einmal. Aber ftatt daß
sie ihm daS Bier endlich gab, tricb sie das vcrrückte
Wescn über ihm immer weiter und schien nicht von fern
daran zu denken, daß das mit dcr Ieit web tun mußte.
Da stieg es in ihm auf mit Angst, Haß und gemeiner
Weinerlichkcit. Er nahm seine Gedanken zusammen,
denn er wollte ihr etwas sagen, etwas Gründliches,
Wütendes, Treffendeö nach seiner Weise. Etwa so:
,,Daß dich der Teufel zehn Klaster in der Erde hätte!
Kommft du denn immer wieder herunter, verrücktes
Luder, Aas, närrischer Satan. Verdamm mich Gott."
Aber da sprang sie ihm plötzlich aus das Herz, einmal,
zweimal. Beim drittenmal durchsuhr ihn ein Stich
oder Schlag; und da war es zu Ende mit ihm.

Der Sturm war aus. In aufgelösten Lichtzügen
schwebte das Gewölk über eine mondbelebte, getröstete
Welt. Die Landstraße zog sich schimmernd vor dem
beleuchteten Nußbaum vorbei und zwischen den dunkleren
Feldern hin. Das Dors lag sicher in der Hut seiner
wohlgegründeten Ordnungen. Die Mondgespenster
wandelten zwei und zwei vor dem Wald vorüber.
Neben dem klcinen, blcichen Kilometerftein lag der totc
Fuhrmann mit seitwärtö gewendetem Kvps und ge-
schlossenen Augen; das Goldblättchen im Ohr schimmerte
im Mondlich't. Das Pferd stand in zerbrochenen
Deichseln und verwirrtem Geschirr vcrlassen daneben
und sror in der Nachtkälte. Manchmal ftieg ein,Ge-
ruch von dem Toten zu ihm auf; dann schauderte es
und schnaubte.

unftgenuß im Automobil.

Wenn die Leute behaupten, daß es so was nicht
gibt, so ift es nur purer Neid. Die Vorzüge
des Automobils kennen überhaupt erft die, die darin sitzen.
Und wcr nicht an dcn Kunstgenuß glaubt, der laffe es
sich erzählen. Sehnsucht, die alte Kupplerin, Erinnerung,
die prosessionelle Schönsärberin, breiten mir die Kunst-
erlebniffe einer sünstägigen Automobilsahrt durch deutsche
romantische Lande wie ein buntscheckiges Bilderbuch auö.
Fünf Tage im Automobil vom Rhein durchs Neckar-
tal, die Mainlinie entlang, und weiter ins klassische Land
über Kronach, Weimar, mitten ins thüringische Land
nach Saaleck, daö gibt ein schönes Bilderbuch von der
deutschen Erde. Än den Rand, in der Eckc oben,
schreibe ich einen sreundlichen Gruß an den liebens-
würdigcn Automobilwirt Paul Schultze-Naumburg, an
Georg Reicke, der seine bürgermeisterliche Seele in Berlin
zurückgelaffcn hat und bloß mit seincr Dichtersecle aus-
gerüstet^ war, mit der sichs gut reisen läßt, sowie an
Karl Rehorst, kölnischer Bürgermeister und sozusagen
Heimatschutz-Autorität. Einen schönen Gruß den Aiito-
mobilgenoffen! L>ie können es bezeugen, was der
Kunstgenuß im Auto bedeutet. Daß es zu schnell
ginge? Nein, das ist gerade das Schöne daran. Die
vierte Geschwindigkeit konzentrierte die Genüsse, reihte
Bild an Bild ohne langwierige llbergänge, und das ist
es, was der disziplinierte Mensch in den romantischen
Genüssen schätzt. Wir brauchcn kein Faß leer zu
trinken, um die Güte cines Weineö zu beurteilen.
Und um die Schönheit deö alten Gerümpels an
Schlössern, Weilern, Burgen und Städtchen zu beurteilen,
gcnügen uns Viertelstunden. Wir würden all die

schlafenden Dornröschen im Lande niemals entdecken,
wäre nicht das prachtvolle organisierte Zaubertier, daö
unS im Nu dort hinträgt, wo kcine Eisenbahn geht,
und dahin zu wandern, wo eö den meisten von uns
an Zeit und Lust gebricht. Es scheint, daß die Zeit
der romantischen Ritte durch das Auto wiedergekommen
ist; wir wollen, und das ist auch ein Zug der Modernität,
das Jahrhundertferne,Weltvergessene,Längstentschwundene
wieder in unseren Tagesbereich ziehen, kinematographisch
gleichsam, und das genügt. Wir wollen es erleben,
aber nicht darin untergehen, denn der Tag hat wichtigere
Aufgaben. Wir wollen in unserer Seele nur ein
Fenster habcn mit einer schönen Auösicht nach dcn
verblühten Gärtcn der Vergangenheit, nach dcm blauen
Strich legendenhafter Schlöffer, Burgen und Städte,
tief in einsamen Tälern und Gebirgen; aber die Haupt-
front unsereö Lebenöhauses liegt nach vorne hin, wo
sich das ungcwisse Chaos der Aukunst mit ihrcn Pro-
blemen gestaltet. Daß wir also gelegentlich das alte
Märchen wiedcr erleben dursten wie ein Bilderbuch,
vcrdanken wir dieser sabelhasten Zeitmaschine, die uns
in wenigen Stundcn oder Tagen nicht nur das räumlich
Getrennte, sondern daö zeitlich Ferne, um Jahrtausende
Iurückliegende in Augenblickserlebnissen verbinden ließ.
Der gute Andersen, er träumte sich zu diesem Zweck
die Galoschen des Glücks; die moderne Automobil-
induftrie verwirklichte sie. Aber es ergeht uns wie dem
guten Andersen: eS ist kein Verweilen in den ver-

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