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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 17.1909

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Heft 6
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Schur, Ernst: Gedanken über Volkskunst
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Lissauer, Ernst: Zur Charakteristik Martin Greifs: (geboren 18. Juni 1839 zu Speier)
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https://doi.org/10.11588/diglit.26460#0229

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Zur Charakteristik Martin Grcifs.

bewahren zu wollcn), wärc cs die Aufgabe der lcilcndcti
Kreise, ihre ganzc Encrgic atis die Ausgabe zu bonzen-
tricrcn, dieser ncuen Volkökunst die Wegc zn bereiten.
Sie wird sich durchsetzen, und vielleicht wird man ein-
mal im Jahre ZOOO eine Auöstellung arrangieren, aus
der all dicse Dinge unserer Aeit zu schen sind, und
inan wird staunen, wicviel künstlcrische Energic in ihnen
fteckt, und wie wir auch nicht das kleinste Gerät in
den Bereich des künstlerischen Schaffens zu ziehen ver-
geffen haben, also daß unsere ganze Architektur, Raum-
kunst und unscr Kunstgewcrbe als eine einheitliche,
starke Volkskunft erscheinen. Ernst Schur.

ur Charakteristik Martin Greifs

(geboren 18. Juni I8Z9 zu Speier)

Stets wird cin Meister der Knnst den strengsten
Richter sich wählcn,

Da sich das halbe Talent immer den giinstigsten
wünscht. Martin Greif.

Es ist der Brauch, daß beim Tode oder beim Jubiläum
cincs Dichters sein Werk allenthalben mit FanatismuS
gepriesen wird. Jnr Grunde müßte das Publikum längft
den Eindruck empsangen haben, daß unsere Dichter sämt-
lich Meister höchsten Ranges sind und die Geschichte
unserer Künste ein talloser Zug gleich hoher und gleich
mächtiger Gipfel ist. Das geschieht nur daruni nicht,
weil von cinem Nekrolog, einem Jubiläum zum andcrn
die Lobreden vergessen sind; andrerseits wird der Lescr
durch die beständigen Superlative und die mcist unbedingt
rühmenden Hymnen gegen alleö Lob abgestumpft (und
dics nicht nur insolge der Nekrologe und Festaufsätze,
sondern weil überhaupt bei uns viel zu vicl empor-
gelobt wird). Gerade aber, weil unsere Kritik, besonders
dic Ieitungskritik, unter unerhörten Mißständen leidet,
weil im Schwall dcs täglichen Kunstgeschwätzes meift
auch die wenigen crnsthaften Außerungcn untergehen,
gerade darum hat ein Schriststeller, der wirken will,
die Pslicht, gerade bei sogenannten aktuellen Vorkomm-
nissen, da daö Publikum mfolgc von allcrlei Jmpondera-
bilien mit willigerem Jntereffc hinzuhören gcneigt ist,
jene Unsitte unter keinen Umständen mitzumachen und
im Gegenteil diese Gelegenheit ivahrzunehmen, um, über
die nächste Aufgabe hinauö, mancherlci anzudeuten be-
treffs der Probleme, die sür die Geschichte und vor allem
das Wescn dcr Dichtkunst bedcutsam sind. Zwischen
den Zeilen jeder ernstlichen Arbeit über einen Dichter
muß dergleichen ftehn; denn man kann von der Art,
wie er scine Jnhalte auödrückt, nicht sprechen, ohne
von der Art deS dichterischen Ausdrncks überhaupt zu
reden, und man kann scine Größe nicht kennzeichnen,
ohne ihn an anderen zu messen. xptvsiv ist die Kunft
des Unterscheidenö, und nur der rezensierende Pfuscher
bctrachtet jeden Dichter als abgelöste Größe- Es gilt
nicmals eine Person zn chren, sondern stetö einc Sachc
darzustellen; wenn anders es einem Dichter nicht genug
der Ehrung ist, auf sachliche Weise gewürdigt zu werden.
Darstellen heißt aber umgrenzen: wie der Künstler selbst
aus der Fülle der Jdeen, der Dinge, der Formen, der
Laute die ihm gcmäßen wählt und so sein Werk wider

dic rings flutende Uncndlichkcit umrandct, so hat dcr
Darstcller dcr künstlcrischen Dingc in jcdem Sinne das
Wescn eineS Hcrvorbringcndcn zu umgrenzen. Wie aber
der dilettantische Poet die Dinge nur notdürftig aus
der allgemeinen Sphärc ihrer gewöhnlichen Existenz
hcrauSzulösen vermag, doch der Gestaltcr sic mit Energie
auö der Vagheit reißt in die Konturen seines Tagö,
so untcrscheiden sich nach den üblichcn Lobreden auch
die Dichter voneinander nicht, sondern verbleiben dem
Blick des Lesers in sarbloser Vagheit, nach Wuchs und
Wesen insgesamt einander gleich.

Martin Greis wird von dcmjenigen Teil der
Kritik, welcher der modernen Bewegung seindlich gegen-
übcrsteht, als ein Bewahrcr der alten lyrischen Tradition
gepriesen und vo» vielen neben unsere größten Lyriker
gestellt, während die Modernen ihn entweder nicht
kennen oder unterschätzen. Man kann aber die moderne
literarische Bewegung sehr wohl sür im Grunde verfehlt
und unfruchtbar halten und sie bekämpfen und dennoch
ihre historische Notwendigkeit begreifcn und sie als einen
gegebenen Faktor in den Zusammenhang einrcchncn; und
anderseits kann man von dcm Segen des organischen
Anknüpsens a» die Tradition überzeugt sein, aber daö
Verhältnis von Tradition und Entwieklung anderö sehen
und werten als jene.

Jm allgemeincn ist nian sich darüber einig, die Be-
deutung des Volksliedes sür die Tradition unserer Lyrik
ungemcin hoch anzuschlagcn. Doch beruht dicse Ansicht
auf einem Jrrtum, dcr von dcn Tagcn der Romantiker
an ununterbrochen bei uns gehcrrscht hat. Selbstver-
ftändlich wird es niemand, der lyrische Gebilde erleben
kann, in den Sinn kommen, die Schönhcit anzuzwcifeln
von Gcdichten, wie „E6 ritten drei Reiter zum Torc
hi'nauö", „Die Ammenuhr", „Ach Gott, wie weh tut
scheiden", „Goden Abend, gode Nacht", und wic alle die
herrlichen Lieder heißen, dic im „Wundcrhorn", bei
Uhland, bei Dittfurth gesammelt sind; was aber be-
ftritten werden muß, das ist die weitverbreitete Mei-
nung, daß hier eine ewige Norm für die Lyrik gegeben
sci. Man hat vergesscn, daß dasjenige, was wir heutc
Volkölied nennen, ein ganz bestimmter lyrischer Stil
war, der aufkeimte, blühte, vcrblühte und heute im
wesentlichen abgestorben ist. Es ift eine verwandte
Erscheinung wie in der Baukunst, da etwa die Gotik
als eine starke Konvention über Teile von Deutschland
verbreitct war und wie cine sormendc Lust allenthalbcn
die Steine nach ihrer Steilheit und Iierlichkeit bildete;
so gab es damals in Deutschland einc sruchtbare Kon-
vention, einc übcr die ganze Volkheit verbreitcte in-
stinktive Gemcinsamkeit in der Stellung znr Dichtkunst.
Aber wie wir es heute verwerfen, daß im Stile der
Gotik gebaut werde, so muß auch abgelehnt werden,
daß im Stile des Volksliedes gedichtet wird. Dic
Forderung, daß die Dichtung volkstümlich sei, kann nur
den Sinn haben, daß der Dichter cin Mehrer des ge-
mcinsamen Guteö sein möge, nicht ein Sonderbrödler,
deffen abgelcgene Gefühle nur von ganz Wcnigen nach-
gelebt wcrden können. Fällt aber jcne Voraussetznng,
so ändert sich der Anblick und die Bewertung der deut-
schen Lyrik wesentlich; in diesem Zusaninienhangc kann
davon nur interessieren, was die Lyrik Martin Greiss

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