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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 17.1909

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Heft 6
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Lissauer, Ernst: Zur Charakteristik Martin Greifs: (geboren 18. Juni 1839 zu Speier)
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https://doi.org/10.11588/diglit.26460#0230

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Zur Chamktcristik Martin''Grrifs.

betrifft, und ihre Bewertung wird in der Tat da-
durch berührt, wie man sich zu jener Frage ftellt.

Denn Martin Greif ist in einem großen Teil seiner
Produktion ein Nachahmer des Volksliedes; viele seiner
Gedichte reihen sich ohne weiteres jener Konvention ein
und siind von ihr nicht zu unterscheiden, das eigentlich
Greiffche Element mangelt ihnen, wie manchen gerade
schwächeren Gedichten Uhlands das llhlandische sehlt:
sie sind unpersönlich und könnten darum eine wandernde
Anonymität erlangen, Volkslied werden. Sie könnten;
doch es geschieht nicht, es geschieht nicht mehr, eben
weil hier eine Rekonstruktion ftattgesunden hat, weil
cin Volkslied nicht im Stile eines Volksliedeö srüherer
Tage gedichtet werden kann, sondern weil eö entfteht,
wenn die mannigsachften Bedingungen zusammen-
lrcffen, die zur Icit Greiss nicht mehr und zu unserer
Ieit noch nicht erfüllt sind; eö muß eine Kultur vor-
handen sein, ein bindender geistiger Humus zwischen
den einzelnen Schichten und zwischen den einzelnen
Jndividuen, der aus dem Nebeneinander von Klaffen
und von Individuen eine Gemeinschaft macht. Auf
dieses Iiel müffen wir wiedcr hinarbeiten, aber eine
Nation in diesem Sinne sind wir heute nicht, und
diese herbe Erkenntnis muß ohne Sentimentalität er-
tragen werden. Ein Volkslied gibt es heute nicht mehr,
das „Volkslied" unserer Tage ist der widerwärtige
Gassenhauer, und einige wenige nur hören vielleicht auö
sernster Fcrne die Töne eineö neuen Volksliedö summcn:
Whitmansche Weisen, Marschrhythmen dazwischen und
wieder Urlaute auö Sagenzeit hinein, aber sie wissen
nicht, ob nicht eine klingende Fatamorgana ihr Ohr trügt.

Es wird serner behauptet, daß Greis insofern ein
besondereö Verdienst zuzumessen sei, als er seine volkö-
liedartigen Gedichte zu einer Zeit schrieb, wo Rhetorik
und Reflexion herrschten: seine Gedichte erschienen 1868,
also zu der Ieit, da die Münchner Schule herrschte.
Auch diese Meinung muß korrigiert werden. Freilich,
das Haupt dieser Gruppe, Geibel, kommt als eigentlicher
Lyriker nicht in Frage, aber einige unter den Münchnern
haben — von ihren anderen Gedichten abgesehen —
auch in der reinen Lyrik Bedeutendes geleistet. Nur
ganz wenige Gedichte Greifs können neben Linggs
„Jmmer leiser wird mein Schlummer" oder den sechs
Schlußversen seines „Mittagszauber" oder neben Grosses
„Sehnsucht" bestehen. Vor allem aber lebte damals
cin Lyriker wie Theodor Storm, der in weit höherem
Maße als Greif „ein elementarer Lyriker" — der Titel
einer Studie von Bayerödorfer über Greif —, aber zu-
gleich ein großer Künstler war, und dies ist Greif ganz
und gar nicht- Außer Friedrich Rückert gibt es keinen
bedeutenderen deutschen Lyriker, der eine solche Menge
nicht nur von Unfertigem sondern von Wertlosem ver-
öffentlicht hat. Aus der Unzahl der Greifschen Gedichte
muß man sich jene wenigen heraussuchen, die eine ernft-
haste Würdigung dieser Lyrik überhaupt nur betrachten
kann, und zwar darf auch hier nicht versucht werden,
vollkommene Gebilde zusammenzustellen, sondern taube
Ieilen, Prosaismen und dergleichen müffen reichlich mit
hingenommen werden.

Greif verwechselte Naivität und Unbewußtheit; oder
vielmehr: es war ihm nicht möglich, die Vereinigung

von Naivität und Bewußtheit zu crlangen, welche die
Größe der Stormschen Lyrik ausmacht. Greis gelang
es einigemal, durch wie von selbst hingcsprochene Worte
lyrische Wunder zu schaffen; doch er erkannte nicht,
woraus die Wunderkrast dieser Wortgesüge beruhte.
Das weitauö meiste, waS er geschrieben hat, ist prinzi-
piell in der Art jener kleinen Wunderwerke und von
ihnen durch nichts anderes unterschieden, als daß sic
Versifikation sind, jene aber Naturlaute der Seele.

Greis dichtet etwa:

Dunkle Regenwolken ziehen
allerwärts ins Tal herein,
matt dahinter im Entfliehen
zuckt der letzte Svnnenschein.

Doch auch er ist bald zerflossen,

Nacht zu werden droht es schier,
eine Lerche unverdrossen
singt allein nur iiber mir.

Auf dieses Gedicht erfolgt im Hörer keinerlei Antwort;
wir haben eine gereimte Feststellung von Tatsachen vor
uns und nichts darüber hinaus. Das um des Reimes
willen gesetzte Flickwort „schier" stört zwar auch, in
der Hauptsache aber wirkt dies Gedicht durch die Matt-
heit der Worte, der Bilder, deö Tones belanglos, all-
täglich, dilettantisch. Mit solchen wertlosen Mitteilungen
ift die Greifsche Sammlung gefüllt. Es wäre aber eine
Ungerechtigkeit gegenüber den ernsthaft arbeitenden Ly-
rikern, wenn man diese Maffe dcs Mittelmäßigen bei
der Bewertung der Greifschen Lyrik außer acht lassen
wollte. Was jemand sür sich und die Seinen schreibt,
ist dem Urteil der Kritik entzogen; waö er der All-
gemeinheit übergibt, gehört der Geschichte an und gilt
alö von seinem künstlerischen Gewissen gegengezeichnet.

Jenem schlechten Sonnenuntergangögedicht sei ein
gutes gegenübergestellt:

Sonne warf den letzten Schein
müd im Niedersinken,
eine Wolke noch allein
schien ihr nachzuwinken.

Lange sie wie sehnend hing,
ferne den Genoffen,
als die Sonne unterging,
war auch sie zerfloffen.

Auch hier stört die Verkrüppelung der fünften Ieile —
nirgends finden wir in den beften VolkSliedern der-
gleichen —, aber aus der Vagheit der Natur ist ein
bestimmtes Motiv herausgegriffen, es ist nicht darüber
referiert, sondern es ist wahrgenommen und umgesehen.

Auf derartigen Naturliedern beruht die Bedeutung
der Greisschen Lyrik vornehmlich. Sie sind Natur-Lyrik
im Sinne StormS, und von ihnen gilt deffen Wort:
„Am vollendetsten erscheint mir daö Gedicht, das zu-
nächst eine sinnliche Wirkung hat, aus der sich dann
die geistige von selbst ergibt". Was Emil Kuh von Ge-
dichten wie StormS „Juli" bemerkt, daß sie „zwischen
Lied und Sinngedicht wundersam schweben", das charak-
terisiert auch diese Greifschen Stücke vortrefflich. Diese
Gedichte sind kurz, in Bild und Ton eine zart ver-
flochtene Einheit. Das befte von diesen Liedern ist:
„Vor der Ernte":

Nun storet die Ähren im Felde
ein leiser Hauch.

Wenn eine sich beugt, so bebet
die andere auch.

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