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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 17.1909

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Heft 1
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Hatvany, Lajos: Die Wissenschaft des Nichtwissenswerten: aus einem Kollegienheft
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Lederer, Victor: Ballett-Reform
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https://doi.org/10.11588/diglit.26460#0041

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Ausgrabungen führen zu allen möglichen nicht minder
sicheren Ergebnissen:

Homer war in Troja!

Homer war nie in Troja!

Der trojanische Krieg ift historisch!

Der trojanische Krieg ist ein Symbol!

Der trojanische Krieg ist ein Volksmärchen!

Der trojamsche Krieg wurde von Homer erfunden!

Der Homerische Text, so wie er uns vorliegt, ist
eine llbereinkunftssache der Alexandrinischen Bibliothekare!

Schließlich kommt einer mit dem Werke: „Der
Homerische Text als voralexandrinisch erwiesen!"

Jch fände kein Ende, würde ich alles über Homer
Erschienene namhaft machen: über die Fischergeräte
Homers, über die Aoriste Homers, über die Farben-
empfindlichkeit Homers, über den Appetit der homerischen
Helden, über Männer badende Frauen in Homer, über
Plural und Singular in Homer. . .

Nun erst fällt mir auf, daß in diesen Regalen
die Homerrede Nietzsches, das beste was je über Homer
geschrieben wurde, fehlt. Er hat auch dieses Exil
redlich verdient — ist er doch zu seinen Folgerungen
ganz einfach durch tiefes Nachdenken, ganz ohne
Methodisieren gelangt, hat er doch nie die Verant-
wortung für seine Jdeen auf Kritik, Logik, Hermeneutik
und andere „...iks" hinüberzuwälzen gesucht, sondern
immer in seinem Jch gefunden. Auch ein andereö
Buch - welches zwar mit Nietzsche nicht in einem
Atemzug genannt werden kann — vermisse ich hier.
GrimmS Wcrk über die Jlias. Dieses Exil ift viel-
eicht das einzig Gemeinschaftliche zwischen dem herrlich-
einsamen, dem ungemütlich-agayanten, nervig-bündigen
Nietzsche und dem traulichen, gewinnenden, von Jugend
auf bereits breitspurig geschwätzigen, aber immer zarten
und feinen, immer fesselnden Berliner Profeffor Her-
mann Grimm. Da er seine Freude an Homer ge-
habt und diese Freude in aller Harmlosigkeit ganz ohne
Schulfuchserei mitteilen wollte, so genießt er nun die
hohe Ehre, neben Nietzsche und Burckhardt, neben Emer-
son und Walter Pater, neben Sainte-Beuve, Michelet,
Taine und Renan hier nicht zu stehen. Durch eine
künstlerische Auffassung seiner Aufgabe ist der Übersetzer
Platos, Herr Kaßner, auch in die Reihe derjenigen ge-
kommen, die in der Seminarbibliothek durch ihre Ab-
wescnheit glänzen.

April 1907.

Die heutige Philologie gleicht einem verrückten
Unternehmen, welches in einer bisher unwirtsamen,
unbekannten Gegend Wege bahnt, Dämme und Brücken
errichtet, unter großem Gebimmel und Gerassel Züge
fahren läßt, sogar Fahrpläne anschlägt und auf den
längft fertigen Linien niemanden cinftcigen läßt, bevor
nicht das ganze Netz vollendet ist... Jahr um Iahr
verzögern sich die Arbeiten, immer neue Hemmnisse
ftellen sich in den Weg, immer tun sich fremde Täler
auf, und die Arbeiter ftreben immer weiter. Mit der
Schaufel, mit dem Hammer wird rastlos gearbeitet.
Keiner hat Ieit noch Lust um sich zu schauen, und
die bereits wegbar gemachte Gegend bleibt unbekannt
wie zuvor.

/

allett-Reform.

Loguisseat in xuos. Daö kurze Ballettröckchen
nämlich. Man wird ihm keine Träne nach-
weinen. Gewiß nicht. Wer könnte denn auch noch
Sympathien aufbringen für diesen altberüchtigten, der
Drehkrankheit gewidmeten Kreisel aus Musselin und
Tüll? Als Halökrause schließlich — ja, da hätte er
vielleicht noch ganz possierlich ausgesehen, tiefer unten
aber an einem andern Körperteil, den er um der Uni-
form des ooi-xs äo bailst willen zieren mußte — nein,
das war auf die Dauer doch nicht mehr zu ertragen.
Für den Astheten noch weniger als für den Icloten.
Und für den Freund eincs schönen, sinngemäßen Tanzes
am allerwenigsten. Begreiflich, daß das Ballett im
Ieichen dieses Lendenschurzes allen Gebildeten ein Greuel
wurde und daß unsere Opernbühnen, die an der soge-
nannten Mailänder Schule der Reiftock-, Fußspitzen-
und Pirouetten-Mache fefthielten, für die Kunft des
Tanzes überhaupt nicht mehr in Betracht kamen....
Heimatlos flüchtete Therpsichore von den zu Artisten
entarteten Künstlern zu künstlerischen Artisten, flüchtete
aus der Oper in die Operette, ins Variöts, in den Grune-
wald, in die „Schönheitsabende" der Berliner Patent-
kultur. Sie flüchtete barhäuptig, barfuß, nackt — eine
Bettlerin. Vor ihr der Troß der „Reformer", hinter
ihr ganze Wagen voll Literatur.... „Nieder mit
dem kurzen Ballettrock!" So scholl eö in allen
Tonarten. Vergebenö. Der kurze Tüllrock blieb in
Amt und Würden. Sein Leben war länger als sein
Radius....

Endlich hat nun auch sein Zügenglöcksein geschlagen.
Auch er muß an die Vergänglichkeit alles Jrdischen
glauben. Die Revolution hat gesiegt: auch das Opern-
ballett beginnt sich zu verjüngen. — Die Wiener Hof-
oper gibt den Ton an: und „der lange Ballett-
rock" — ist die Parole.

Kein Iweifcl: der Ruf wird ein mächtigcö Echo
weckcn, der Versuch schnell Nachahmung finden. Gleich
am ersten Abende der neuen Ballett-Ara (bei der Premisre
von Straußenö „Aschenbrödel") fühlte man es
instinktiv: wir sind an einem Wendepunkte der Ballett-
kunst angelangt.

An einem Wendepunkt. Ganz gewiß. Und vielleicht
ist eö kein bloßer Zufall, daß sich diese großzügige und
durchgreifende Ballettreform der Wiener Hofoper an
die Geschichte des Johann Straußschen „Aschenbrödels"
knüpft, eines Werkes, das ebenso seinem Schicksal nach
ein Aschenbrödel war, wie es auch seinem Jnhalt nach
zu cinem Aschenbrödel der Künste symbolische Beziehungen
zeigt -

Seinem Schicksal nach? .... Natürlich; war das
Werk doch Straußens Schmerzenskind. Sein einziges
Ballett, zu dem er sich halb unwillig entschloß. Von
einem bis heute unbekannten Verfasser entworfen. Alö
Buch unter 7OO Einreichungen preisgekrönt. Und doch
schließlich unbrauchbar, so daß es von Regel überarbeitet
werden mußte. Von Strauß in den letzten Tagen seines
Lebens geschrieben. Mit dem Aufgebot seiner letzten
Kräste fertiggestellt. Oder nein, nicht fertiggestellt. Un-
vollendet hinterlassen. Von Bayer vollendet. Dem



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