Der Kilometerstein.
Seine Seele rüftete sich eilig und verwirrt zum Ab-
scheiden und raffte in ihren Räumen hastig aus allen
Winkeln den Bettel ihres Lebens zusammen, um ihn
drüben zu Ausweis und Gutspruch vorzuzeigen. Es
war kcine philosophische Seele. Sie war nicht gewöhnt,
unter Dingen auszuwählen. Sie war allezeit so arnr
und hungrig gewesen, daß sie jetzt nicht dachte, sie wolle
sich so und so verhalten und drüben dics und das
sprechen. Sic konnte, war sie klug, ruhig nu't leeren
Händen drüben auftreten und sagen: „Es ging zu
schnell und kam zu srüh; was willst du mit mir be-
ginnen? Wer hat mir das Haus hingeworfen? Nun
liegt alleö zerbrochcn darunter!" Sie konnte auch rasch
zwei oder drei gute Sachen aussuchen cmd drübcn
sprechen: „Schau, den Anfang habe ich gemacht; es
ist doch schade; eben wollte ich recht in Schwung
kommen." Start dessen belud sie sich bündelweise mit
Lumpen und Trödeln und dachte in ihrcm blöden Sinn:
„Wenn er mich sieht angeschleppt kommen, so weiß cr
Bescheid." Sie irrte unklug von Raum zu Raum
und von Winkel zu Winkel. Es stand ein Lederstock
in einer Kammcrccke, den der Fuhrmann cinem Schuh-
machergescllen durch Schafkopfspielcn abgcwonnen, und
mit dem er unlängst bei ciner nichtswerten Rauserei
drei oder vier anderc Fuhrleute verprügelt hatte. Nach
dcm schoß die Seelc mit beiden Händen, als cr ihr
in dic Augen fiel. Sie war immer ftolz gewesen auf
die Leistung und mcinte nun, Gott müsse da auch einen
Gefallen daran haben.
Gleich daneben hing an eincm Nagcl cin Weiber-
unterrock. Dcn hatte der Fuhrmann vor ebcn acht
Tagen — zusolge cincr Wette mit andern Fuhrleuten —
nach Mitternacht der Tochter des protestantischen
Psarrers in Heilsdors aus dcr Kammer geholt. Das
war ein Hauptstreich gewesen von einer solchen Satans-
mäßigkeit, daß das Mädchen nicht mal erwacht war
davon. Ungerechnet den Aufstand, den es am andern
Tag in der lutherischcn Psaffei gegeben haben mußte.
Daran mcißten Gott und die Heiligen unbcdingt ihren
Mann kennen!
Die Seele riß den Unterrock an sich und schoß
cilends weiter. Das Haus konnte jeden Augenblick über
ihr einstürzen; es schwankte und bebte mit ihr hin und
her und auf und ab, daß sie mit ihrem Plunder manch-
mal über einen ganzen Boden hinslog und immer von
einer Wand an die andere geworfen wurde. Dann
war es aber auch wieder völlig totenstill im Haus,
daß ihr grauste, und daß sie erft recht lies und trieb,
um hinaus zu kommcn. Dabei stolpcrte sie auch über
eine Raffe Andenken an Jugendstreiche. Sie sah den
Hausen, erinnerte sich sosort, daß da der abgeschnittene
Schulmeisterrockzipsel dabei lag, und riß das Ganze
eilig in eine provisorische Trage zusammen; sie und
Gott würden nachher schon sehen. Dann hastete sie
weiter mit ihren Packen.
Das Hauö begann wieder, sich zu heben und zu
senken. Die Wände schwanktcn und tanzten, und alle
Dinge schwanktcn und tanzten mit. Eö war wie aus
dem Meer, und der Seele wurde auch so schwindlig
und übel wie von der Scekrankheit. Sie tastete ohne
wciteren Aufenthalt auf die Tür los; aber die Tür
war verschlosscn und verklammt; sie gab nicht nach,
wie die Seele auch daran rüttete und ihre Kräfte ver-
darb. Dann kam wieder ein Stoß von unten und ein
Schlag von oben und außen. Die Decke regte sich und
begann sich zu scnken. Der Boden hob sich wankend
und ruckweise. Dic Wände neigten sich oben gegcn-
einander und zogen sich unten nach. Die Seele wars
sich grauscnd mit ihren Packen unter sich, verhielt sich
Augen und Ohren und erwartete in törichtcm Ent-
setzen ihren Tod. Dic Unwissende wußte nicht, daß
eine leere Scele nicht sterben kann, sondcrn daß ihrer
viel schwärzere Schrccken warten; um daS bei'zcitcn zu
lernen, war sie zu dumm und zu leichtsinnig gewesen.
Der Sturm raste. Er klirrte über dcn Wald, als
ob er lauter Scherben und zerbrochene Krüge und
Seelen vor sich hertriebe. Der Nußbaum stöhnte. Die
Fäuste deS Sturmes saßen ihm unbarmherzig in der
Krone und begannen, ihm gleich Fingern die kleinercn
Afte zu brechen, nachdem er ihm die Iweige in Menge
wic mit Stangen heruntergcschlagen hatte. Der kleine
bleiche Kilometerstein wurdc mit fliegendcm Gebölz be-
rcgnet. Der Kops des Fuhrmanns war von ihm ab-
geglitten und lag nun mit dem Gesicht dicht vor der
Pserdenase. Das Pferd schnupperte mit zitterndcn
Nüstern danach, und ein sremdes Furchtgesühl ging wie
eine kalte Hand ihm übers Herz. Es versuchte auf-
zustehen, aber da schrie der Fuhrmann so schrecklich aus,
daß eö verzagend liegen blieb.
Der Fuhrmann war ein junger Mcnsch von zwei-
undzwanzig Jahren, seit einem Jahre verheiratet, wcgen
Augenschaden militäruntaugll'ch — er trug Goldplättchcn
in den Ohren —, und Vater von zwei Aindern, von
denen daö erste drei Wochen nach der Hochzcit und
daö andere vor etwa zwei Monaten gekommen war.
Wenn seine Frau recht hatte, war sie wieder im Be-
griff, Mutter zu werden; das kam von seiner chelichen
Treue. Heute hatte er sür einen Maler ein in eine
Kifte vernageltes sehr großes Bild nach der Bahn-
station gefahren, war unter Kollcgen am Wirtstisch
sitzcn geblieben und hatte dabei von eincm Alten ein
Mittel ersahren. Die Frau mußte unverzüglich aus
cinen Tisch steigen und dann hart zur Erde springen,
so wurde es nichts.
Nun arbeitete sein erschüttertes Gehirn an dem
Experiment hcrum, und manchmal löste sich die bornicrte
Jdee als Vorftellung aus irgend einer dunkelhellen
Höhe und stürzte aus ihn nieder; doch konnte er vor-
crst nicht klar kriegen, war eö sein Pferd, war es die
Schüssel mit Heseteig oder war es seine Frari. Nach-
her verquickten sich die Sachen miteinander; da hatte
seine Frau einen Pfcrdekopf, oder war das Pferd seine
Frau und trug dic Schüsscl mit Hefeteig in den Händen
War eS scine Frau rein, so ging eö zum Zubettgehen,
und cr sah sie in ihrem rotschwarz gestrciften Unter-
rock und in Hemdärmeln; da gefiel sie ihm. War
sie mit dem Pfcrd zusammen, so schien es ihm Morgen
zu sein, und dann sürchtcte er sie. Ähnlich hatten sich
seine Gefühle auch in Wirklichkeit nach den TageSzeiten
gedreht. Am Abend sah er ihre starken Arme und ihre
hohe Brust, und war verliebt. Am Morgen bemerkte
und bcdachte er ihre sechSunddreißig Jahrc und ihr
Seine Seele rüftete sich eilig und verwirrt zum Ab-
scheiden und raffte in ihren Räumen hastig aus allen
Winkeln den Bettel ihres Lebens zusammen, um ihn
drüben zu Ausweis und Gutspruch vorzuzeigen. Es
war kcine philosophische Seele. Sie war nicht gewöhnt,
unter Dingen auszuwählen. Sie war allezeit so arnr
und hungrig gewesen, daß sie jetzt nicht dachte, sie wolle
sich so und so verhalten und drüben dics und das
sprechen. Sic konnte, war sie klug, ruhig nu't leeren
Händen drüben auftreten und sagen: „Es ging zu
schnell und kam zu srüh; was willst du mit mir be-
ginnen? Wer hat mir das Haus hingeworfen? Nun
liegt alleö zerbrochcn darunter!" Sie konnte auch rasch
zwei oder drei gute Sachen aussuchen cmd drübcn
sprechen: „Schau, den Anfang habe ich gemacht; es
ist doch schade; eben wollte ich recht in Schwung
kommen." Start dessen belud sie sich bündelweise mit
Lumpen und Trödeln und dachte in ihrcm blöden Sinn:
„Wenn er mich sieht angeschleppt kommen, so weiß cr
Bescheid." Sie irrte unklug von Raum zu Raum
und von Winkel zu Winkel. Es stand ein Lederstock
in einer Kammcrccke, den der Fuhrmann cinem Schuh-
machergescllen durch Schafkopfspielcn abgcwonnen, und
mit dem er unlängst bei ciner nichtswerten Rauserei
drei oder vier anderc Fuhrleute verprügelt hatte. Nach
dcm schoß die Seelc mit beiden Händen, als cr ihr
in dic Augen fiel. Sie war immer ftolz gewesen auf
die Leistung und mcinte nun, Gott müsse da auch einen
Gefallen daran haben.
Gleich daneben hing an eincm Nagcl cin Weiber-
unterrock. Dcn hatte der Fuhrmann vor ebcn acht
Tagen — zusolge cincr Wette mit andern Fuhrleuten —
nach Mitternacht der Tochter des protestantischen
Psarrers in Heilsdors aus dcr Kammer geholt. Das
war ein Hauptstreich gewesen von einer solchen Satans-
mäßigkeit, daß das Mädchen nicht mal erwacht war
davon. Ungerechnet den Aufstand, den es am andern
Tag in der lutherischcn Psaffei gegeben haben mußte.
Daran mcißten Gott und die Heiligen unbcdingt ihren
Mann kennen!
Die Seele riß den Unterrock an sich und schoß
cilends weiter. Das Haus konnte jeden Augenblick über
ihr einstürzen; es schwankte und bebte mit ihr hin und
her und auf und ab, daß sie mit ihrem Plunder manch-
mal über einen ganzen Boden hinslog und immer von
einer Wand an die andere geworfen wurde. Dann
war es aber auch wieder völlig totenstill im Haus,
daß ihr grauste, und daß sie erft recht lies und trieb,
um hinaus zu kommcn. Dabei stolpcrte sie auch über
eine Raffe Andenken an Jugendstreiche. Sie sah den
Hausen, erinnerte sich sosort, daß da der abgeschnittene
Schulmeisterrockzipsel dabei lag, und riß das Ganze
eilig in eine provisorische Trage zusammen; sie und
Gott würden nachher schon sehen. Dann hastete sie
weiter mit ihren Packen.
Das Hauö begann wieder, sich zu heben und zu
senken. Die Wände schwanktcn und tanzten, und alle
Dinge schwanktcn und tanzten mit. Eö war wie aus
dem Meer, und der Seele wurde auch so schwindlig
und übel wie von der Scekrankheit. Sie tastete ohne
wciteren Aufenthalt auf die Tür los; aber die Tür
war verschlosscn und verklammt; sie gab nicht nach,
wie die Seele auch daran rüttete und ihre Kräfte ver-
darb. Dann kam wieder ein Stoß von unten und ein
Schlag von oben und außen. Die Decke regte sich und
begann sich zu scnken. Der Boden hob sich wankend
und ruckweise. Dic Wände neigten sich oben gegcn-
einander und zogen sich unten nach. Die Seele wars
sich grauscnd mit ihren Packen unter sich, verhielt sich
Augen und Ohren und erwartete in törichtcm Ent-
setzen ihren Tod. Dic Unwissende wußte nicht, daß
eine leere Scele nicht sterben kann, sondcrn daß ihrer
viel schwärzere Schrccken warten; um daS bei'zcitcn zu
lernen, war sie zu dumm und zu leichtsinnig gewesen.
Der Sturm raste. Er klirrte über dcn Wald, als
ob er lauter Scherben und zerbrochene Krüge und
Seelen vor sich hertriebe. Der Nußbaum stöhnte. Die
Fäuste deS Sturmes saßen ihm unbarmherzig in der
Krone und begannen, ihm gleich Fingern die kleinercn
Afte zu brechen, nachdem er ihm die Iweige in Menge
wic mit Stangen heruntergcschlagen hatte. Der kleine
bleiche Kilometerstein wurdc mit fliegendcm Gebölz be-
rcgnet. Der Kops des Fuhrmanns war von ihm ab-
geglitten und lag nun mit dem Gesicht dicht vor der
Pserdenase. Das Pferd schnupperte mit zitterndcn
Nüstern danach, und ein sremdes Furchtgesühl ging wie
eine kalte Hand ihm übers Herz. Es versuchte auf-
zustehen, aber da schrie der Fuhrmann so schrecklich aus,
daß eö verzagend liegen blieb.
Der Fuhrmann war ein junger Mcnsch von zwei-
undzwanzig Jahren, seit einem Jahre verheiratet, wcgen
Augenschaden militäruntaugll'ch — er trug Goldplättchcn
in den Ohren —, und Vater von zwei Aindern, von
denen daö erste drei Wochen nach der Hochzcit und
daö andere vor etwa zwei Monaten gekommen war.
Wenn seine Frau recht hatte, war sie wieder im Be-
griff, Mutter zu werden; das kam von seiner chelichen
Treue. Heute hatte er sür einen Maler ein in eine
Kifte vernageltes sehr großes Bild nach der Bahn-
station gefahren, war unter Kollcgen am Wirtstisch
sitzcn geblieben und hatte dabei von eincm Alten ein
Mittel ersahren. Die Frau mußte unverzüglich aus
cinen Tisch steigen und dann hart zur Erde springen,
so wurde es nichts.
Nun arbeitete sein erschüttertes Gehirn an dem
Experiment hcrum, und manchmal löste sich die bornicrte
Jdee als Vorftellung aus irgend einer dunkelhellen
Höhe und stürzte aus ihn nieder; doch konnte er vor-
crst nicht klar kriegen, war eö sein Pferd, war es die
Schüssel mit Heseteig oder war es seine Frari. Nach-
her verquickten sich die Sachen miteinander; da hatte
seine Frau einen Pfcrdekopf, oder war das Pferd seine
Frau und trug dic Schüsscl mit Hefeteig in den Händen
War eS scine Frau rein, so ging eö zum Zubettgehen,
und cr sah sie in ihrem rotschwarz gestrciften Unter-
rock und in Hemdärmeln; da gefiel sie ihm. War
sie mit dem Pfcrd zusammen, so schien es ihm Morgen
zu sein, und dann sürchtcte er sie. Ähnlich hatten sich
seine Gefühle auch in Wirklichkeit nach den TageSzeiten
gedreht. Am Abend sah er ihre starken Arme und ihre
hohe Brust, und war verliebt. Am Morgen bemerkte
und bcdachte er ihre sechSunddreißig Jahrc und ihr