Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 17.1909

DOI Heft:
Heft 1
DOI Artikel:
Schaffner, Jakob: Der Kilometerstein
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.26460#0034

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Der Kilomcterstein.

Jndem der Hund heulte, kam das Pferd mit dem
Wagen angeraft. Eö sprang mit seinem schiminernden
Fell wie mit einem einzigen Satz auö der Finstcrniö
heraus und stand plötzlich hochausgebäumt, schnaubend
und zitternd vor dem weißen Stein in seinem Geschirr
aus den Hintersüßen. Der Nußbaum wars wie eine
verwunderte alte Frau die Arme hoch; aber der kleine
Stein sah zwischen den Erscheinungen so ängstlich aus,
als wollte er vollcnds in den Boden hinein vcrsinken.
Als das Fuhrwerk schon stand, klang im Sturm das
Getöse von Rädern und Husen noch einmal von einer
andern Seite porüber.

Der Fuhrmann sprang sinnloö vor Wut von seinem
Sitz herab, lies zum Pserd vor und wars sich ihm mit
beidcn Fäusten in die Zügel. Die Aügcl troffen vor
Schaum und Angstgeiser. Das Tier hatte tiese, irre
Höhlen über den Äugen. Die Augen glühtcn und
wetterleuchteten aus dcm weißen Kops heraus. Das
Pferd machte den Eindruck, als sei cs daran, den Ver-
stand zu verlieren. Es schlug mit den Vordersüßen
haltlos gegen den Sturm; die Hinterhuse klangen in
dem groteöken Tanz, den eö unter sich aussührte, aus
eine wilde, tödliche Art von der Straßc aus. Der Mensch
hing der Kreatur mit dem ganzen Gewicht in den
Zügcln, daß ihr die Gebißstange die Mundwinkel bis
zum Ierreißcn verzerrten; aber die gewollte Aurecht-
weisung wurde dadurch nicht bewirkt. Daö Gehirn des
Tiercö erzeugte unter der vielseitigcn Bedrängniö und
Verwirrung inuncr ncu den cincn törichten Ientral-
begriff von einer surchtbaren Gefahr, die von dem
kleinen bleichen Stcin neben der Straße drohe.

Der Hund sprang in großen Sätzen um den stumm
geführtcn Kampf herum. Er bellte nicht mchr. Seinc
Äugen glühten, und alleö Haar stand ihm gesträubt
voni Leib. Er wußte nicht, warum er herum rannte.
Er war von einer unsinnigen Erregung befallcn, die
keine Ursache mehr hattc, alö sich selbcr. Es schien ihm
rot vor den Augen. Er kannte nichts mehr von seiner
Umgebung. Einmal blieb er stehen und sah einen
Augenblick stumps und neugierig auf seinen Herrn:
dann nahm er scin Laufen wieder aus, über den Kilo-
meterstein ins Feld, unter dem Nußbaum vorbei, über
den Straßengraben zurück, und um Pferd und Mensch
herum über die Straße wieder gegen das Feld hinein.
Alle drei Geschöpfe waren sinnloö vor Furcht und Wut.
Jedeö war der Feind des andern und das Grauen des
andern. Alle fühlten, der Tod war mitten unter ihnen,
und jedeö sah im andern ein Hindernis, ihm zu ent-
sliehen. Der Fuhrmann betete und sluchte:

„Gott soll mich verdammen! Heilige Maria, laß
mich mit dem Lebcn davon kommen; ich stifte dir was.
Jesus, Maria und Joseph, der Teusel ist in daS Vieh
gefahren. Da fteigt der Satan schon wieder aus! Und
wenn du nur verrecktest! Kommst du denn nun gar
nicht mehr herunter, Luder, Satan, verrückter Teusel?
Jesus, Maria! Jesuö, Maria!" Er war nahe ani
Weinen. Seine Gedanken bewegten sich hurtig und
inimer hurtiger in demsclben elenden Kreis herum wie
in einer Rennmühle. Er schwitzte am ganzen Leib, sah
mit unsicheren nassen Blicken zu dem schnaubenden
Pserdekopf auf, und es tanzten ihm lauter wildgewordcne

Schimmel vor den Augen. Wenn ihm der kalte Sturm
ins Genick wehte, so lief ihm eine Gänsehaut über den
Rücken, und es war ihm, die Faust des Teusels greise
nach ihm. Er zerfiel mit aller Vernunft und mit jedem
Sinn, und hing in den Pserdezügeln auf Gnade und
Ungnade zwischen Tod und Leben, mehr gewärtig des
ersteren als des letzteren, welches ihm bereits so sern-
hin entschwunden war, daß nur das surchtbare und
blödsinnige Gefühl der gegenwärtigen Situation in
ihm lebte.

Der Nußbaum ächzte ini Sturm und griff mit den
Nsten umsonst in der gejagten Lust nach einem Halt
herum. Der Sturm kam wie mit Ketten mit neuer
Macht über daö Feld herbeigeschleift. Zugleich brach
der Mond mit einem Rand wieder durch das Gewölk.

Das war der Moment, in dem dcr Hund toll wurde.
Er kam vom Nußbaum hergerannt. Wie er übcr den
Graben setzte, blieb er hierseitö im Aussprung wie ein-
gebrochcn stehcn, horchte starr mit gestellten Ohren in
dcn unsäglichen Tumult, und ging dann geradezu mit
stillen, stiercn Wutblicken aus den Menschen los. Zu-
gleich ftieg das Pferd zum letztcnmal. Wild auf wars
es in Verzweislung den Kops, daß dcr Mensch einen
Augenblick srei und ausgeliefert über der Erde schwebte,
und schwang sich mit zum Himmel aufgerissenem Maul
keuchcnd hoch herum. Die Deichsel krachte. Die ganze
zuckende Pferdemasse ftürzte scitwärts hintcnübcr zur
Erde. Der ohnmächtige Mensch in seincm Riemen-
werk sühlte sich mit einem gefährlichen Ruck herum-
und heruntergerissen. Er sah den verzerrten Pferdckops
im Mondlicht über sich durch die Lust herabsausen.
Dann vergingen ihm die Sinne niit der erbärmlichen
Vorstellung, daß er zu Hause in der Küche stehe und
eine Schüffel mit Hescteig vom Brett aus ihn nieder-
stürzte. Er wollte noch rufen: „Frau, nimm das
weg!" aber cs ging zu rasch. Das Pserd brach ihm
mit der Schulter über Schenkel und llnterleib herein,
während er selber mit dem Kopf auf den Kilometer-
stcin aufschlug.

Aus der Dorfkirche schlug es zwöls Ubr. Die Eule
hob sich in der Richtung gegen das Feld lautloö davon.
Der Hund trabte mit eingezogenem L>chwanz die Land-
straße hin dem Klang entgegen. Er hatte mit cinem
Seitensprung sich vor dem stürzenden Pferd gerettet,
alsdann ohne Besinnen seige zu lauscn begonnen, und
rannte nun in einem Laus seiner Witterung nach auf
daö Dors zu mit der unerträglichen stupiden Sucht in
Hirn und Gcbiß, um sich zu beißen, ohne Hunger die
Iähne in Fleisch zu schlagen, in viel, sehr viel lebendeö
Fleisch zu schlagen. Das Maul troff ihm von Gist und
Geiser. Der Hals brannte, der Magen schmerzte, und
die Eingeweide knurrten. Dabei empfand er einen heftigen
Ekel gegen allc Speise. Es war ihm clend zumute, und
er zitterte vor einem unbckannten, schwarzen, jämmer-
lichen Schicksal. So lief er auf das Dors zu.

Der Mensch lag einsam aus der Landstraße unter
seinem Pserd, mit dessem Atem er den seinigen ver-
mischte, so nahe bcfand sich Gcsicht bei Gesicht. Er
hatte einen Schenkelbruch erlitten nebst einem Bruch
des Beckens, Verletzungen in der Bauchhöhle und eine
Gehirnerschütterung mit Einbruch der Schädeldecke.

rr
 
Annotationen