Kunst und Volk.
bcsondercr Bildungsgrad, kein Wohlstand oder sonstiger
Vorrang, der einzelnen Ständen und Klaffen des Volkes
— je nach dem Lauf der Ieiten — vergönnt ist, mag
auch durch alldas die Freiheit und Freude des mensch-
lichen Mitgesühls leichter erblühen. Dies Mitgesühl
eignet vollkommen nur solchen Seelen, denen das mcnsch-
liche Dasein unendlich mehr ist als eine Lausbahn zum
Wohlbefinden, zum Vornehmtun oder Neunmalklugsein,
nämlich ein steter gründlicher Antrieb zur Steigerung
aller schaffenden Kräfte, ob sür, ob gegen, ob durch
einander. Das sind die menschenwürdigen Seelen, die
auch die Kunst von Grund auf zu würdigen wissen.
Sie pflanzen den Willen zur Menschheit sort, sie bilden
in Wahrheit den Volksgeift und Zeitgeift und begeistern
allmählich sogar die Halbwilligen; sie sind in jeder Volks-
schicht zu finden, wcnn auch am meisten wahrscheinlich
in jenen Schichten, die am eifrigften für die Zukunft
kämpsen. Wo sich der Sinn auf Vollkommenes richtet,
ist „Volk" stets nur der Jnbegriff der menschlich
ftrebsamsten Volksgenossen, d. h. ein Unterbegriff der
Menschheit; wer cin vollkommener Mensch sein könnte,
der wäre natürlich auch im Besitz von jeder Vollkommenheit
seines Volkes. Der Reft aber, der ewig rückständige,
der wohlbestallte wie übelbestellte, der Bildungspöbel
wie rohe Mob: je nun, der hält sich an die Art Kunst,
die das Volk übers menschliche Dasein täuscht, mehr
oder weniger hundsgemein. Doch ist auch diese Art
Volk und Kunst im geistigen Haushalt dcr Menschheit
vonnöten, denn eben ihr Widerstand reizt die andere Art
zur beständigen Steigerung ihres Willens.
Z. Keine Art Volk 'schafst jemals Kunst; jede
Art Volk reizt die Künstler zum Schassen.
Das will besagen:
Die Kunst, soweit sie nicht Handwerk und Machwerk
ist, stellt eine unwillkürliche, uncrklärliche Einsicht inö
Leben vor, die stets nur Wenigen innewohnt und sich
nur durch eigentümlich geheimniövolle, zwar den Sinnen
vollkommen deutliche, doch dem Sinn vielfältig deutsame
Bilder Anderen mitzuteilen vermag. Auch was man
gewöhnlich VolkSkunst nennt, ist niemals durch die
gemeinsame Macht irgend eines Volköwillens entstanden,
sondern immer ursprünglich von Einzelncn aus reinem
Eigensinn ersonnen und dann erft zu Gemeingut geworden.
Aus einem natürlichen Mitteilungstrieb, der schon im
Licht der Geftirne waltet, gibt der Einzelne sein einsameö
Sinnbild dem willigsten Empsängerkreis hin, oder dem
mächtigsten Abnehmerkreis; der gibt es weiter und immer
weiter, und dadurch schleifen sich unter Umständen —
zumal bei mündlicher Weitergabe — die eigensinnigsten
Iüge des Bildes ins Allgemcinverftändliche ab. Jn den
kleinen Volksgemeinden der Urzeit besorgten wohl meist
die Priesterkasten und Herrengeschlechter die erste Ver-
breitung; nachhcr vermittelten Fahrende Leute zwischen
der Künstlerschaft und dem Volk, oder die Künstlerschaft
wurde Berus und ging also selbst aus die Fahrt nach
Brot. So zog einst der Barde mit seincn Heldcngesängen
von Herrenhof zu Herrenhof, der Troubadour mit seinen
Balladen von Ritterschloß zu Ritterschloß; und allerlei
anderes Fahrendcs Volk machte die vornehmen Gebilde
sürs seßhafte schlichte Volk zurecht, und aus der erhabenen
Heldensage wurde ein Volkslied, ein Bänkelsang. So
sind auch die Märchen der Urgroßmütter nicht von den
Urgroßmüttern erfunden; sondern die alten Göttersagen,
Naturmythen und Geistergcschichten einer von Priestern
gelenkten Kultur sind später von sinnigen Landftreichern,
cntlaufenen Mönchen, Scholaren und Schreibern, für
das Verständnis der Spinnftuben-Jnsassen verweltlicht
und vereinfacht worden, auch wohl versimpelt und ver-
ballhornt. So ist auch die sogenannte Bauernkunst, wie
sie in Hausrat und Volkstracht sich friftet, nirgends dem
Heimatboden entsprungen, ift aus höfischen oder städtischen
Kreisen von reichen Dörflern ausö Land verpslanzt, und
da erstarrt sie durch Handwerksbrauch zu wunderlich
verwucherten Formen, bis wieder eine neue Stadtkunst
kräftig und reis genug geworden ist, die entartete alte
zu verdrängen. So ging auch die Kunst der wildcn
Völker seit jeher den Ermächtigungsweg über den Fest-
platz des Zaubcrpriefterö, daö Ielt dcö Häuptlings oder
der Obmänner, um in alle Hütten des Stammes zu
dringen. Denn der Künstler, der kein Strumpfwirker
ist, will sein Werk nicht im Engen verkommen lassen;
er will wie daö Leben ins Leben wirken, ins unendlich
weite belebende Leben, und heute wendet sich seine Kunst
nur deöhalb gleich ans breitere Volk, weil es mächtiger
alö die Machthaber dem schaffendcn Willen deö Lebens
dient.
4. Das Volk versteht nichts von der Kunst;
das ift auch nicht nötig zum Kunstgenuß.
Das besagt:
Es gibt überall nur Wenige, die vollkommen fähig
zum Kunstgenuß sind; dic vollc (Penußkrast ist cbenso
selten wie die vollkommene Schaffenskrast. Aber auch
diese Wenigen, Jeder für sich allein genommen, verftehen
nur wenig von den vielfältigen Reizen, die daö geheimnis-
volle Leben in dem bewunderten Werk bewirken. Selbst
von den Handwerksgriffen des Künstlers verfteht zu-
weilen sogar der Künstler nicht jeden einzelnen Wirkungs-
wert, geschweige den ganzen Iusammenhang; und
mancher nüchterne Kunftgelehrte sieht da schärser als
der scharfsinnigste Meister. Nur find die äußerst klugen
Leute, die bloß mit Verstand zu genießen verftehen,
gewöhnlich die innerst seelendummen und begreifen oft
weniger als ein Nigger von der begeifternden Gesühls-
welt, die hinter den Reizen des Kunftwerkes lebt. Diese
Kunstverftändigen zwar entscheiden, ob ein Werk den
besten Kennern des Handwerks auf absehbare Ieit zu
genügen vermag, und schätzen seinen Sachwert ein; aber
unabsehbar ift das Leben, und ein vollkommenes Kunst-
werk enthält die Lebenshinterlassenschast von hundert-
tausend Millionen anderen Werken und das unschätzbare
Vorvermächtnis sür aber-und-abermals andre Millionen.
Ein solches Werk kann Jahrhunderte lang — nach den
Maßstäben aller Sachverständigen, nach dem Urteil der
Künstler wie Kunstgelehrten, nach der Meinung der
eignen wie fremder Volköart — ein wertloses totes Unding
sein: und auf einmal ist es nur scheintot gewesen und
belebt tausend Geister zu neuem Gesühl, zu neuem
Schaffen und neuem Genuß. Vor der unbekannten seeli-
schen Macht, der das vollkommcne Kunstwerk entstammt,
ift eben auch der Kenner „nur Volk". Uber diese
beständige Machtvollkommenheit, diesen eigensten Lebenö-
wert der Kunst entscheidet keincrlei Kunstverstand, auch
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bcsondercr Bildungsgrad, kein Wohlstand oder sonstiger
Vorrang, der einzelnen Ständen und Klaffen des Volkes
— je nach dem Lauf der Ieiten — vergönnt ist, mag
auch durch alldas die Freiheit und Freude des mensch-
lichen Mitgesühls leichter erblühen. Dies Mitgesühl
eignet vollkommen nur solchen Seelen, denen das mcnsch-
liche Dasein unendlich mehr ist als eine Lausbahn zum
Wohlbefinden, zum Vornehmtun oder Neunmalklugsein,
nämlich ein steter gründlicher Antrieb zur Steigerung
aller schaffenden Kräfte, ob sür, ob gegen, ob durch
einander. Das sind die menschenwürdigen Seelen, die
auch die Kunst von Grund auf zu würdigen wissen.
Sie pflanzen den Willen zur Menschheit sort, sie bilden
in Wahrheit den Volksgeift und Zeitgeift und begeistern
allmählich sogar die Halbwilligen; sie sind in jeder Volks-
schicht zu finden, wcnn auch am meisten wahrscheinlich
in jenen Schichten, die am eifrigften für die Zukunft
kämpsen. Wo sich der Sinn auf Vollkommenes richtet,
ist „Volk" stets nur der Jnbegriff der menschlich
ftrebsamsten Volksgenossen, d. h. ein Unterbegriff der
Menschheit; wer cin vollkommener Mensch sein könnte,
der wäre natürlich auch im Besitz von jeder Vollkommenheit
seines Volkes. Der Reft aber, der ewig rückständige,
der wohlbestallte wie übelbestellte, der Bildungspöbel
wie rohe Mob: je nun, der hält sich an die Art Kunst,
die das Volk übers menschliche Dasein täuscht, mehr
oder weniger hundsgemein. Doch ist auch diese Art
Volk und Kunst im geistigen Haushalt dcr Menschheit
vonnöten, denn eben ihr Widerstand reizt die andere Art
zur beständigen Steigerung ihres Willens.
Z. Keine Art Volk 'schafst jemals Kunst; jede
Art Volk reizt die Künstler zum Schassen.
Das will besagen:
Die Kunst, soweit sie nicht Handwerk und Machwerk
ist, stellt eine unwillkürliche, uncrklärliche Einsicht inö
Leben vor, die stets nur Wenigen innewohnt und sich
nur durch eigentümlich geheimniövolle, zwar den Sinnen
vollkommen deutliche, doch dem Sinn vielfältig deutsame
Bilder Anderen mitzuteilen vermag. Auch was man
gewöhnlich VolkSkunst nennt, ist niemals durch die
gemeinsame Macht irgend eines Volköwillens entstanden,
sondern immer ursprünglich von Einzelncn aus reinem
Eigensinn ersonnen und dann erft zu Gemeingut geworden.
Aus einem natürlichen Mitteilungstrieb, der schon im
Licht der Geftirne waltet, gibt der Einzelne sein einsameö
Sinnbild dem willigsten Empsängerkreis hin, oder dem
mächtigsten Abnehmerkreis; der gibt es weiter und immer
weiter, und dadurch schleifen sich unter Umständen —
zumal bei mündlicher Weitergabe — die eigensinnigsten
Iüge des Bildes ins Allgemcinverftändliche ab. Jn den
kleinen Volksgemeinden der Urzeit besorgten wohl meist
die Priesterkasten und Herrengeschlechter die erste Ver-
breitung; nachhcr vermittelten Fahrende Leute zwischen
der Künstlerschaft und dem Volk, oder die Künstlerschaft
wurde Berus und ging also selbst aus die Fahrt nach
Brot. So zog einst der Barde mit seincn Heldcngesängen
von Herrenhof zu Herrenhof, der Troubadour mit seinen
Balladen von Ritterschloß zu Ritterschloß; und allerlei
anderes Fahrendcs Volk machte die vornehmen Gebilde
sürs seßhafte schlichte Volk zurecht, und aus der erhabenen
Heldensage wurde ein Volkslied, ein Bänkelsang. So
sind auch die Märchen der Urgroßmütter nicht von den
Urgroßmüttern erfunden; sondern die alten Göttersagen,
Naturmythen und Geistergcschichten einer von Priestern
gelenkten Kultur sind später von sinnigen Landftreichern,
cntlaufenen Mönchen, Scholaren und Schreibern, für
das Verständnis der Spinnftuben-Jnsassen verweltlicht
und vereinfacht worden, auch wohl versimpelt und ver-
ballhornt. So ist auch die sogenannte Bauernkunst, wie
sie in Hausrat und Volkstracht sich friftet, nirgends dem
Heimatboden entsprungen, ift aus höfischen oder städtischen
Kreisen von reichen Dörflern ausö Land verpslanzt, und
da erstarrt sie durch Handwerksbrauch zu wunderlich
verwucherten Formen, bis wieder eine neue Stadtkunst
kräftig und reis genug geworden ist, die entartete alte
zu verdrängen. So ging auch die Kunst der wildcn
Völker seit jeher den Ermächtigungsweg über den Fest-
platz des Zaubcrpriefterö, daö Ielt dcö Häuptlings oder
der Obmänner, um in alle Hütten des Stammes zu
dringen. Denn der Künstler, der kein Strumpfwirker
ist, will sein Werk nicht im Engen verkommen lassen;
er will wie daö Leben ins Leben wirken, ins unendlich
weite belebende Leben, und heute wendet sich seine Kunst
nur deöhalb gleich ans breitere Volk, weil es mächtiger
alö die Machthaber dem schaffendcn Willen deö Lebens
dient.
4. Das Volk versteht nichts von der Kunst;
das ift auch nicht nötig zum Kunstgenuß.
Das besagt:
Es gibt überall nur Wenige, die vollkommen fähig
zum Kunstgenuß sind; dic vollc (Penußkrast ist cbenso
selten wie die vollkommene Schaffenskrast. Aber auch
diese Wenigen, Jeder für sich allein genommen, verftehen
nur wenig von den vielfältigen Reizen, die daö geheimnis-
volle Leben in dem bewunderten Werk bewirken. Selbst
von den Handwerksgriffen des Künstlers verfteht zu-
weilen sogar der Künstler nicht jeden einzelnen Wirkungs-
wert, geschweige den ganzen Iusammenhang; und
mancher nüchterne Kunftgelehrte sieht da schärser als
der scharfsinnigste Meister. Nur find die äußerst klugen
Leute, die bloß mit Verstand zu genießen verftehen,
gewöhnlich die innerst seelendummen und begreifen oft
weniger als ein Nigger von der begeifternden Gesühls-
welt, die hinter den Reizen des Kunftwerkes lebt. Diese
Kunstverftändigen zwar entscheiden, ob ein Werk den
besten Kennern des Handwerks auf absehbare Ieit zu
genügen vermag, und schätzen seinen Sachwert ein; aber
unabsehbar ift das Leben, und ein vollkommenes Kunst-
werk enthält die Lebenshinterlassenschast von hundert-
tausend Millionen anderen Werken und das unschätzbare
Vorvermächtnis sür aber-und-abermals andre Millionen.
Ein solches Werk kann Jahrhunderte lang — nach den
Maßstäben aller Sachverständigen, nach dem Urteil der
Künstler wie Kunstgelehrten, nach der Meinung der
eignen wie fremder Volköart — ein wertloses totes Unding
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belebt tausend Geister zu neuem Gesühl, zu neuem
Schaffen und neuem Genuß. Vor der unbekannten seeli-
schen Macht, der das vollkommcne Kunstwerk entstammt,
ift eben auch der Kenner „nur Volk". Uber diese
beständige Machtvollkommenheit, diesen eigensten Lebenö-
wert der Kunst entscheidet keincrlei Kunstverstand, auch
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