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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 17.1909

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Heft 4
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Dehmel, Richard: Kunst und Volk: neun Selbstverständlichkeiten, die aber doch der Erklärung bedürfen
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https://doi.org/10.11588/diglit.26460#0156

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Kunst und Volk.

kein Kunstgcschmack und kein Kunstgefühl, weder des
Einzelnen noch einer Volksmasse; denn es gibt und gab
kein einziges Kunstwerk, an dem der Verstand nicht zu
mäkeln sände, und Geschinack und Gefühl sind unbeständig,
ob aus Verstand oder Unverstand. Uber den Lebenswert
der Kunst entscheidet stets nur das Leben selbst, das
wandelbare Leben der Menschheit, wandelbar von Volk
zu Volk, ob durch Iusall, Notwendigkeit oder Gott-weiß-
was, doch beständig zum Weiterleben gewillt. Mit dem
Genuß aber hat das wenig zu tun; den rohesten Kerl
kann das scheußlichste Machwerk unvergleichlich stärker
und inniger sreuen, als die reinfte Schönheit den feinsten
Kenner. Wer Andereö lehrt, ist ein FaselhanS, ob nun
ein Schwarmgeist oder ein Nüchterling.

5. Der Kunstgenuß jeder Art Volkes besteht
in der Begeisterung durch das Unbegreisliche,
in der Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen, in
der Lust und Liebe zum Abenteuerlichen: in
Glauben, Traum und Übermut.

Das bedeutet:

Wie das Wesen des KunstschaffenS unerklärlich ist,
so auch das Wesen des Kunstgenießens; erklärlich ist
nur der bewirkte Zuftand. Er ift, und sei er noch so
vergeiftigt, ein Zustand der sinnlich besriedigten Liebe, im
weitesten und engsten Sinn, in der höchftcn, tiefsten,
slachsten Bedeutung: Liebe, Verliebtheit, Liebhaberei. Er
gibt also nicht die geringste Gewähr für den Wertbestand
des geliebten Dinges, sür Schönheit, Naturwahrheit und
so weiter. Wie dem liebenden Jüngling ein Gesicht, das
er gestern noch für abschrcckend hielt, heute ein Ausbund
aller Liebreize ist, ihm vielleicht sein ganzes Leben lang
sein wird, vielleicht auch nur für etliche Wochen, so liebt
und lebt auch der Kunstliebhaber; und nun erst gar ein
Gemisch von Volk! Sogar das griechische Volk war
kein Kunstvolk, wie manche Leute es gerne träumen;
denn ein griechisches Volk hat es nie gegeben, es gab
nur einige Stadtgemeinden mit wenigen, sehr machtvollen,
kunstliebenden Patrizierfamilien und einem Haufen macht-
süchtiger, vergnügungslustigcr Spießbürger nebst einer
bäurischen Sklavenherde. Aber die Lust und Liebe zur
Kunst ist selbft ein gewaltiger Lebenswcrt: sie legt den
geliebten Dingen Vollkommenheit bei, auch wenn sie noch
unvollkommen sind, und hebt alle Kräfte der liebenden
Seele, auch wenn es nur schwache Kräfte sind. Das gilt
sür Männlein wie sür Weiblcin; denn in den höchsten
Bezirken der Liebe hört der Geschlechtöunterschied glücklich
aus. Sie treibt den Geist in einen Traum, der ihm die
stärksten Sehnsüchte seineö Lebens durch das angebetete
Bild ersüllt zeigt; und je weniger Wissen den Geist
bescbwert, je weniger KenntniS von Kunstmaßftäben,
um so leichter glaubr er seinem Traum. Dann braucht
er keine Erklärungen mehr: dann wird ihm das Unbe-
greisliche klar, daß er Eins ist mit dem einsamen
Künstler: dann erlebt er wie Dieser das Grenzenlose, ist
mit ihm die Blume aus dem Felde, mit ihm der Held
seiner Abenteuer, mit ihm ein ganzes mächtiges Volk
und jauchzt im Stillen vor Ubermut. Und wenn er
auswacht aus dieseni Traum, der ihm das Winzigste
riesengroß, das Furchtbarste herrlich und lieblich machte,
dann verehrt er die unersorschliche Kraft, die frei mit
den eigenen Grenzen spielt; und seine Abenteuerluft, die

einen Augenblick staunend geftillt war, gibt sich ermutigt
dem unstillbaren, wandelbaren Leben hin. Ein ganzes
Volk aber, das so träumt und nur kraft höchster Kunst
so träumt, das ist ein — schöner Zukunftstraum.

6. Die höchste Kunst wirkt nicht unmittelbar,
sondern mittelbar als Sage ins Volk.

Nämlich:

Nicht bloß die Kunst der vorgeschichtlichen oder
späterer ungeschichtlicher Zeiten, wie sie unö in heroischen
Fabeln, humanen Jdyllen, religiösen Parabeln vom
„Volksmund" überliesert ift, sondern auch alle geschicht-
liche Kunst, die ein vollkommenes Sinnbild sinnlichen
Lebens und zugleich des höchsten geistigen ist, dringt
ins ganze Volk nur durch Hörensagen und lebt nur
durch freie Erinnerung fort; auch der Buchdruck hat
daran nichts geändert. Wer liest heute noch Cervantes
und Swift, wie sie vollständig im Buche ftehen, oder
gar Dante und Homer? Ein zählbares Häuslein
Gebildeter; und viele von ihnen nur aus Zwang. Wer
sieht heute noch ein Bildwerk von Phidias oder hört
die zärtliche Sappho singen? Wer hat die Pyramiden
besucht, wer den Peterödom, wer den Park von Versailles?
Wer kennt wirklich Lionardo vollkommen, wer Goethe,
wer Mozart und Gluck, wer Bach? - Aber man spreche
von Gullivers Reisen, von Don Quijote, Don Juan,
Helena, Fauft, man nenne die Namen Prometheus
und Orpheus, Michelangelo, Shakespeare, Rembrandt,
Beethoven: und ein Schauer gläubiger Einbildungskrast
wird auch den Geist des geiftig Armen mit Bildern
schicksalreichsten Lebens, Gestalten vollkommener Mensch-
lichkeit süllen. Unter hundert Kunstkcnnern sind nicht
zwei in der Deutung von Dantes Beatrice, der Erklärung
von Shakespeares Hamlet einig, aber jeder Einzige fühÜ
sich im Klaren, sobald er im Leben sagen hört: jenes
Mädchen scheint eine Beatrice, dieser junge Mann ist der
reine Hamlet. Das eben ist das Kennzeichen höchster
Kunst, daß sie Keinem ganz begreiflich wird, daß der
Eine Dies, der Andere Ienes als ihr bedeutsamstes
Merkmal herausgreift, daß sie die unbegrenzte Macht
hat, über die eigene Bildwirkung weg durch ftemde
Vermittelung weiterzuwirken, bis sich aus all den
begeifterten Meinungen ein allgemeincs Erinnerungsbild
formt, oft nur ein Teilchen des Ursprungsbildes, aus
dem der Volksgeist aber das Ganze — und mehr als
das - zu begreisen glaubt. So genügt dem Liebenden
eine Locke, um ihm die ganze Geftalt der Geliebten,
den Duft ihres Haars, ihren Blick, ihr Lächeln, ihre
ganze Seele herauszubeschwören; ja, es genügt ihr bloßer
Name.

7. Nie ift Kunft volkstümlich von Anbeginn;
sie wird es kraft ihrer ursprünglichen, neube-
lebenden Freiheitsluft, und sie bleibt es krast
ihrer notwendigen, althergebrachten Ordnungs-
liebe.

Denn:

Volkstümlichkeit ist das Endergebnis einer langen
sreiwilligen Gewöhnung aller einzelnen Volksmitglieder,
oder doch der meisten und menschlich besten, unter An-
leitung der geistig regsten. Man'will sich aber an nichts
erft gewöhnen, was von Hause aus schon gewöhnlich
ist; und man gewöhnt sich auch an nichts, waö durch-

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