Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 17.1909

DOI issue:
Heft 5
DOI article:
Hamann, Richard: Gewand und Plastik, [2]
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.26460#0183

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Gewand nnd Plastik.

Hand häll cr den Riemcn, an dcm cr den Mantel
über dle Schultern zieht, und den Zipsel deS Mantel-
falles dcr Gegenseite. Und wie sicher faßt und hält
er cS! Ohnc Falte und Krnck legt eS sich scst um

dle Schultern. Auf der lmken Körpcrseite wird es

vom Arm etwas zur Seite gedrängt, damit es von
hier auS in scstcr Vertikallinic hcrabsällt. So abge-
wogen ist dic Mengc dcS StoffeS, der von der gegen-
überliegcnden Seitc hcrübergerafft ist, daß jetzt die

Seitenlinien des KörpcrS parallcl vcrlaufen und die

Figur statuarisch wie cin Pfeiler dastcht. Die Faltcn
abcr, in dic daS hcrübergenommcne Gewandende sich
legt, sind gering an Zahl, klar
und bcstimmt in ihrer Form,
von herrlicher Rundung und
sich umkehrender Proportiona-
lität von Höhe, Weite und
Tiese dcs Faltenwurfes. Jn
gleichmäßig wachsendem Ab-
stand scnkcn sie sich nach
unten. An dieser Statue
sehen wir es deutlich: mit
einem cinzigcn Handgriff wirkt
der König in die ungcord-
neten Maffen hinein und zü-
gclt sie.

DaS Gewand wird cin
Teil deö Köpers, über den
dcr ordnende Wille des Men-
schen verfügt. Mit völlig
sreiem Fall der Falten ver-
bindet sich höchstc Geschloffen-
hcit dcr Gcsamtform, und
auch diese äußere Form ist
ebenfallö Absicht der Figuren.

Sic haltcn daö Gewand an
sich heran, sie nehmen sich
zusammem Große Gegensätze
dcr vertikalen, straffstehenden
Standsaltcn und dcr horizon-
tal im Bogen verlauscnden
Spiclsaltcn gliedern diese»

Block und crsüllcn ihn mit
lebendiger Funktion. Auö
lauter großen, klaren, leicht
faßbarcn und rhythmisch ge-
ordneten Teilsormen sctzt sich
der Gesamtblock zusammew
Bei dcm Engel in Reims kommt die in den Hüstcn
sich wiegende Seitwärtsdrehung des Körpcrs restlos
in den leicht und clegant seitwärts gebogenen Faltcn-
zügen deS Rockeö zum Ausdruck. Diese Schräg-
stcllung und Gleichgewichtsstörung findet statt zwischen
Falten, deren streng vertikaler, schwerliniger Iug die
Standhaftigkcit der ganzcn Figur trotz inncrer Beweg-
lichkeit garantieren wie die Psähle cincs Gerüstes, an
dem eine Schaukel schwingt. Von dem zentralen Be-
wegungömotiv dcs HaltenS und Raffenö und Tragens
dirigiert, gewinnen dic Teilsormcn von innen hcraus
eine der Plastizität des Stoffes entsprechcnde Form.
Nicht mehr von außen ist in sie hincingearbeitct, sondern

von inncn herauö schwcllcn sie, wölben sie sich mus-
kulös. Entsprechcnd der strafferen Funktion der Stand-
saltcn ist bci ihnen die Muskulatur dcr Falten straffer
und gespanntcr, die cntlasteten spielendcn Hängefalten
zeigen schlaffere Formen. Die Faltcnmotive cntsprechen
dem Körpermotiv dcs StandbeincS und Spielbcines,
und doch hat ma» bci den Naumburgcr Figuren längst
des Grundmotiv im Gewand crfaßt, bis man sich klar
macht, daß cs auch untcr dcr Hülle wiedcrkehrt. Jm
klcinen wird von dcr Uta daö Hauptmotiv wiedcrholt
und variicrt in den kurzen Vcrtikalfalten unter der
faffenden Hand, die über sich einen kugligcn Bausch
tragen. An daS Verhältnis
vom Kops zum tragenden Hals
mag man dabci denkcn. Dicse
kurzcn, schräg gcrichtctcn Fal-
tcn führen in das Spielmotiv
übcr, und diese wieder in die
gcbcugten Arme.

Diescr plastische Reichtum
gegliederter Form und bclebter
Haltung ist stark und krästig
gcnug, den Figuren eincn in
sich ruhenden Wert, eine vor-
bildliche Schönheit mitzuteilcn.
Würde man dcn Mantel ab-
nehmen, sände man ein großeS
Stück Zcug von rechteckigem
Schnitt. , Begrifflich können
wir wohi auö dcm Grad dcr
Plastisicrbarkcit schlicßen, daß
es cin schwcrcr Wollstoff ist —
Loden mcint Bergner —, so
wie die seincn brüchigen Falten
der Synagoge Seide odcr fci-
nes Leinen darstellcn sollen.
illber nicht die Qualität deö
Stoffcs, nicht seine Farbe und
scin Besatz ist es, der uns ge-
fällt. Wäre der Stoff ver-
schoffcn und abgetragcn und
von billigstcr Sorte, diese
Frauen würden sich ebenso
adlig und vornchm in ihm
präsenticrcn. Dcr Geist, der
hier beschäftigt ist, den Kör-
per zu bilden, bedars nicht
noch dcr Rechtfcrtigung durch
Jntcrprctation nach Seitc der seelischen Vertiefung. Der
Ausdruck dcö in plastischcr Weise kuglig gesormten
Kopfes ist der dcs GleichmuteS, dcr den Grund ihrcr
Sccle scstigt. Dicsc Figurcn vergeffen sich nicht. Und
wclcher körperlichen Kultur sie sich untcrworsen haben,
lehrt cin Blick aus ihrc Hände.

Von diesem klassischen Gewandstil aus schreitet die
Entwicklung weiter zur Vcrstärkung der inneren Funktion,
zur Vermchrung ihrcr Organc und zur Aerstörung der
äußeren Gesamtsorm. Die Falten werden immer stärker
gchäuft, wie die Muskulatur barockcr Nacktstatucn
immer detaillierter wird. Bauschig sallen sie in starkem
Schwall auö dcm Hauptumriß der Figur hcraus, ticfc

Stifterpaar (Cckardt tl. imd Uta) im Westchor deö
Naumburger Domes.
 
Annotationen