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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 17.1909

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Heft 6
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Dresdner, Albert: Hans von Marées
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https://doi.org/10.11588/diglit.26460#0233

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Hans vo» Mar6es.

teren BewegungS- (und also auch Handlungs-) Motive, um
die Probleme ja nicht zu verwirren, um sich durch
keine Nebenreize, keine Nebenaufgaben vom Elementaren
ablenken zu lassen. Man sieht einen Künstler wieder
an dem Probleme arbeiten, das sür die Renaissance
zucrft Masaccio gelöft hatte; einen Menschen fesi auf
seinen eigenen Füßen, auS der Krast seines eigenen
Organismus stehen zu lassen. Man sieht einen Künstler
wieder systematisch alle die Möglichkeiten durchstudieren,
die die griechischen Bildhauer des sechsten Jahrhun-
dertS durchstudiert haben: Stehen auf beiden Bcinen,
Auslösung des Motivs durch den Gegensatz von Stand-
bein und Spielbein, Stehen mit übereinandergeschlagenen
Beinen und so sort. Jn dieser Wcise geht er die
ganze elementare Bewegungslehre durch, um sich eine
elementare Formentypik zu schaffen. Ebenso verfährt
er mit dcn Verschiedenheiten des Alters und Ge-
schlechtes, die er aus ihre allereinfachsten typischen Merk-
male zurückzusühren strebt. Er kennt nur den Mann,
den Greis, den Iüngling, daö Weib, das Kind;
schon in der Studie nach dem Modelle löscht er
die individuellen Iüge aus, und er hat aus den Bil-
dern seiner entscheidenden Periode überhaupt keine
Individuen mehr geschildert, sodaß in unserer Er-
innerung nur ein Maräes-Mann und ein Maröes-
Weib sortlebt. Unter all den schweren inneren Leiden,
in die ihn die selbsterwählte Aufgabe stürzte, blieb
sich Maröes doch stets bewußt, und mit Stolz bewußt,
daß seine Behandlung und Darstellung der menschlichen
Gestalt etwas in der modernen Kunst völlig Neues sei.
Denn so oft sie auch im 19. Jahrhundert geschildert
worden war, so handelte cs sich dabei doch stets ent-
weder um die mehr oder weniger naturalistische Wieder-
gabe eines Ateliermodells oder um die Benutzung eines
geschichtlich überlieferten Schemas für die menschliche
Gestalt, ob es nun daö der Antike oder daö des Botticelli
oder das des Rubens oder das des Watteau war.
Konnte nun auch sreilich Maroes solche Erinnerungen
nicht völlig ausschalten (seine Frauen z. B. haben viel
venezianisches Blut in sich), so war cr doch wirklich der
erste und einzige Moderne, der die menschliche Gestalt
als Organismus zu erfassen strcbte, der sie aus ihren
eigenen inneren Bedingungen aufbaute, auswachsend von
der Sohlc bis zum Scheitel, jedeö Glied tragend und
getragen, jedes hinweisend auf jedes andere Glied und
aus den ganzen Körper. Statik und Mechanik des
Körpcrs waren ihm alles, und wcnn er nach dem
Modelle studierte, so waren es die Gelenke, auf die er
vor allem seine Aufmcrksamkeit richtete. Das findet
sich in den Auszeichnungen seines Schülers Pidoll aus-
drücklich bestätigt; ich glaube, daß Kunowökis „rhyth-
mische" Zeichenmethode einen Versuch darstellt, Maröes'
Verfahren sestzuhalten und sortzubilden. Die Ver-
zeichnungen, die sich Maröes bei seinen Gestalten zu-
weilen gestattet, sind erstaunlich, aber noch viel erstaun-
licher bleibt die organische Eigenkraft, die viele davon
dennoch entwickeln. Feuerbachs Akte erschcinen neben
den seinen als Pariser Atelierarbeiten, Böcklins als derb-
schlächtige Naturprodukte — allein die Maroes' sind
fteie Schöpsungen eines streng organisch aufbauenden
Geistes.

Es ist ganz natürlich, daß Maröes mit diesen
Studien vor allem aus die Bildhauer gewirkt hat, wie
Hildebrand, Volkmann, Tuaillon. Er aber war Maler,
und als solchem stelltc sich ihm zugleich das weitere
Problcm, die zweidimensionale Fläche zum Ausdrucke deö
dreidimensionalen Raumes zu machen. Und wiederum
verfährt er hier ganz, wie beim Studium der Ge-
ftalt, versucht er sich eine elcmentare Raumtypik aus-
zubilden und den Raum alö Organismus auszubauen.
Er verschmäht die überlieferten Kunstmittel, wie die
Repouffoirs, aus die Feuerbach Zeit seines Lebens an-
gewiesen geblieben ist, und strebt danach, daß die not-
wendigen Bildelemente aus sich heraus dcn Raum
gestalten. Der Stehende, der Sitzende, der in die Tiefe
sich Ausftreckende; Bäume, Wasserspiegel, nach hinten sich
verlierende Hügelketten; die Bewegungen deö Grcisenö
nach oben, nach unten, nach hinten: das sind die immer
wiederkehrenden, unermüdlich abgewandelten Motive
seiner Raumbildung. Die menschliche Geftalt fungiert
als der Hauptträger des Raumes, der dadurch eine
außerordentliche Wahrheit und Einsachheit gewinnt. Dic
Landschaft ist ganz im antiken Sinne, nur alö raum-
bildendes Element, aufgefaßt. Ja, so streng war
Marses gegen sich, daß er, der große und reiche Kolo-
rift, schließlich sogar die Farbe im Jntcresse der Raum-
bildung typisierte. Seine Skala zeigt in seiner vollen
Entwickclung nur noch drei Haupttöne: Braun, Grün
und Blau, von denen das Braun, hauptsächlich an
Erde und Körpern verwandt, der Träger des Vorder-
grundes wird, während Grün und Blau Mittelgrund
und Ferne bilden. Wie er freilich in diese Elementar-
skala einzelne andcre Töne gclegentlich leicht einordnct,
das zeigt einen geborenen Meister.

Man wird eö hiernach verstehen, wenn ich Marses
im Ganzen einen Archaiker nenne. Nicht, daß er ein
spielerischer Altertümler gewesen wäre, wie wir deren
genug gehabt haben. Vielmehr ist seine Kcmft in dem
Sinne archaisch, daß es eine Kunft der grundlegenden
Anfänge ist. Seine Gestalten behalten bei aller Ge-
diegenheit der inneren Struktur etwaö Besangeneö, Un-
frcies; man merkt ihncn schon die mächtigc Anftrengung
der geiftigen Abstraktion an, die es sich ihr Schöpser
hat kosten lassen; sie sind nicht mit den Figuren deS
PhidiaS oder Polyklet, sondern eher init dem Iünglinge
von Tenea oder allensallö den Ngineten zu vergleichen.
Wenn in anderen Epochen ein Jahrhundert und mehr
die Aufgabe gelöst hat, die naive Typik der Kunst-

ansänge zu eincr gesetzmäßigen, bewußt gehandhabtcn
Typik zu entwickeln, so hat er als Einzelner den erstaun-
lichen Mut gehabt, sich einer ähnlichen Ausgabe zu

unterziehen, obwohl ihm doch die moderne Kunst die
Grundlage jener naiven Typik nicht bot. Die Tatsache,
daß er sich selbft nicht Genüge geleistet, daß er die

Mehrzahl seiner Bilder nicht vollendet hat, tritt für
uns heut zurück vor der Erkenntnis, daß er aus dem
Wege, den er beschrittcn hat, bewundernswert weit ge-
kommcn ift und Erstaunliches erreicht hat. Seine

Bilder zu vollenden bleibt eine Aufgabe des 20. Jahr-
hunderts.

Denn wohlverstanden: Marseö' Werk ist eben nur
eine großartige, konsequente und gediegene Grundlegung,

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