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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 24.1914

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Heft 4
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Seeliger, Ewald Gerhard: Die Freiheit des guten Herzens: eine Seegeschichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.26492#0154

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Die Freiheit dss guten Herzens.

Sie hielten ihn fest, fragten ihn nach seinem Namen
und erfuhren, daß er ganz aus der Nähe von Pleherel
stammte. Er hieß Henry Boutin und war sogar mit
ihnen ganz entfernt verwandt.

Nun griffen sie ihn unter und zogen ihn mit. Seine
Kiste blieb auf dem Aoll zurück.

Denn sie wollten Abschied feiern. Sie tranken und
gaben dem Jungen, halb aus Gutmütigkeit, halb aus
Lust zum Schabernack, viel mehr zu trinken als ihm gut
war. Schließlich schleppten sie ihn in den blauen Kolibri,
ein sehr lebhaftes Haus in einem stillen, engen Gäßchen.
Hier setzten sie sich mit dem allerlustigsten Mädchen
in ein besonderes Aimmer, ließen Wein auffahren,
lachten und schwatzten und schäkerten mit ihr nach
Herzenslust.

Das Mädchen hieß Florence Tardieu, ein Fischer-
kind von der Südküste der Bretagne, nicht älter als
achtzehn Jahre, und hatte ein sehr gutes Herz, daß sie
einem schmucken Burschen niemals etwas abschlagen
konnte. Und dabei blühte sie von Schönheit und Ge-
sundheit und war niemals schlechter Laune.

Nur im blauen Kolibri gefiel es ihr nicht, weil sie
da zu wenig Freiheit hatte.

„Hoch die Freiheit!" schrie Guillaume Andriaur.

„Gleichheit und Brüderlichkeit!" brüllte Charles
Rabier und stieß das leere Glas auf den Tisch, daß es
zersprang.

Der Schiffsjunge hing auf dem Stuhl und rührte
kein Glied.

„Der arme Junge!" sagte Florence Tardieu mit-
leidig, wie sie nun einmal war, und wollte ihm die
blassen Wangen streicheln.

Da verlor Henry Boutin das Gleichgewicht, fiel
vom Stuhl und lag da wie tot.

„O weh!" rief Florence und wollte ihm aufhelfen.

„Laß ihn nur liegen!" lachte Guillaume Andriaur.
„Wenn er seinen Rausch ausgeschlafen hat, wird er schon
von selbst aufstehen."

Aber sie kniete bei ihm nieder, hob ihm das cine
Augenlid hoch und sah nur das Weiße.

„Er ist tot!" schrie sie auf, und fuhr zurück.

Die beiden Matrosen sprangen auf, legten den
Jungen aufs Bett, zogen ihn aus, horchten auf seine
Atemzüge und auf sein Herz und hörten nichts. Er
hatte das Genick gebrochen.

„Er ist wirklich tot!" sagte Guillaume Andriaur
und kratzte sich hinterm Ohr.

„Seine Schuld!" meinte Charles Rabier mit Gleich-
mut.

„Wir können doch keinen toten Schiffsjungen an
Bord bringen!" sprach Guillaume Andriaur. „Was
machen wir mit ihm?"

„Wir lassen ihn hier!" schlug Charles Rabier vor.

„Und ich?" rief Florence unter Tränen. „Was
wird aus mir? Man wird mir die Schuld geben!"

„Das ist freilich schlimm!" versetzte Guillaume An-
driaur, sann ein wenig nach, tippte sich zweimal an die
Stirn, und sofort kam ihm ein guter Einfall. „Du
ziehst seine Kleider an und kommst mit uns an Bord.
Als Schiffsjunge hast dus nicht schwer. Du hilfst dem
Koch und mußt dem Kapitän das Essen aufbacken.

Wir fahren in die Südsee und rund um die Welt. He,
hast du keine Lust, um die ganze Welt zu fahren. Mit
uns beiden! Die andern brauchen ja nichts davon zu
wissen. Morgen ftüh gehen wir in See. Oder hast du
Angst vor dem großen Wasser?"

Sie schüttelte schon halb gewonnen den Kopf.

Charles Rabier griff den feinen Plan mit Nach-
druck auf.

Und Guillaume Andriaux ließ nicht locker. Da
siegten schließlich ihre Uberredungskünste. Florence
willigte ein. Den Ausschlag gab ihre Abneigung gegen
den blauen Kolibri und die der Jugend eigene Lust
zum Abenteuerlichen.

Als die drei gegen Mitternacht mit der Kiste des
Schiffsjungen an Bord des Triton kamen, brannte in
der Kajüte des Kapitäns noch Licht. Guillaume An-
driaur pochte an die Tür, rückte nur wenig an der Mütze,
denn er war wie alle andern ein Anhänger der revo-
lutionären Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, und
sagte: „Bürger Montarnal, da ist der Schiffsjunge."

Louis de la Gorde schaute auf und nahm das Schiffs-
journal.

„Wie heißt du?" fragte er, ohne aufzublicken.

„Henry Boutin!" antwortete Charles Rabier an
ihrer Statt.

„Henry Boutin!" wiederholte Louis Montarnal
und setzte den Namen auf den allerletzten Platz. „Gegen-
über ist deine Kammer, gleich neben der Kambüse!
Geh, leg dich schlafen."

Guillaume Andriaur und Charles Rabier trugen
die Kiste in die Kammer des Schiffsjungen, schlichen
nach vorn ins große Logis, wo die Matrosen ihre Kojen
hatten, lachten sich ins Fäustchen und schwiegen.

Am nächsten Morgen, noch vor Sonnenaufgang,
wurden die Segel gesetzt. Dabei fiel Guillaume Andriaur,
dem der Wein von gestern noch in den Knochen saß,
von der Nock der Obermarsrah ins Wasser. Charles
Rabier, sein guter Vetter, der auf dem Bugspriet stand,
sprang ihm sofort nach, erwischte ihn, Guillaume An-
driaur klammerte sich in seiner Angst fest an ihn und
so sanken sie beide unter und kamen nicht wieder zum
Vorschein.

Trotz dieses Unfalls stach der Triton in See. Die
beiden Soldaten gingen mit dem Lotsen von Bord,
kehrten nach Paris zurück und meldeten die glückliche
Abreise des Bürgers Montarnal.

Der Triton wurde auf der Höhe von Madeira von
einer englischen Fregatte angehalten, aber als Träger
einer friedlichen Mission unbehelligt gelassen. Er folgte
genau Laperouses Kurs. Jn Santa Catharina ver-
proviantierten sie sich frisch. Vier Wochen später ge«
wannen sie nach einer stürmischen Kreuzfahrt um das
Kap Horn die Südsee.

Dank Montarnals unablässiger Fürsorge war kein
Kranker an Bord. Sie waren alle vergnügter denn je-
mals, als der Triton im Perustrom und im Südost-
passat nach Norden strebte. Am vergnügtesten aber war
Florence, der Schisfsjunge. Seine unerschöpflichen
Keckheiten belustigten die ganze Mannschaft. Sogar
Lambert Soulas, der dickköpfige Steuermann, zwang
sich zuweilen ein Schmunzeln ab.
 
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