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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 24.1914

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Heft 6
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Bab, Julius: Dramaturgisches Jahr
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https://doi.org/10.11588/diglit.26492#0240

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Dramaturgisches Jahr.

die eingestreut sind) für ein realistisches Zeitdrania hält.
Mehr noch als dieses Stück wecken die kleinen allzu
gewichtlosen Einakter, die Eulenberg mit einer ziemlich
unechten Grazie zahlreich ausgeschüttet hat, die Be-
fürchtung, daß der Erfolg dem reichen aber von je
unsicheren Talent schlecht bekommen sein könnte.

Von einigen anderen dramatischen Dichtern, auf
deren Schritte nian zu achten haben würde, kann in
dieser Jahresschau deshalb nicht groß die Rede sein,
weil ihr Neuerschienenes nur den Wert eines Awischen-
spiels, bestenfalls eines ersten Versuchs auf noch
unbekanntem Boden hat. Wilhelm Schmidtbonns
„Der verlorene Sohn"*, in dem dieser Dichter
sich aus dem lyrisch-psychologischen in einen pathetisch-
monumentalen Stil hinüberwagt, ist doch allzusehr
szenische Partitur geblieben, ein Karton, der auf die
Farben des Regisseurs wartet; das eigentlich Ver-
dichtende, die dramatische Erfindung fehlt fast ganz und
nur einige lyrische Kadenzen verraten die Seele des
Dichters, der uns im gleichen Jahr das entzückende
Märchenbuch vom „Wunderbaum" schenkte. — Um-
gekehrt macht Hans Kyser, der mit „Titus und die
Jüdin" auf dem Wege schien, einen pathetisch-heroischen
Stil zu meistern, einen Vorstoß in die intimen Psycho-
logien modernen Milieus. Jn der „Erziehung zur
Liebe"** wogen Wedekindsche Stimmungen der ersten
und Schnitzlersche Stimmungen der letzten Liebe brutal
und sentimental durcheinander. Aber auch hier ist die
neue Form kaum halb gemeistert, und vieles, was bei
der Leselampe noch eben erträglich ist, erweist sich im
scharfen Licht der Rampe als bloß literarische Nach-
füllung eines emsig bemühten Verstandes, als des
lebendigen Lautes bar. So wirkt dies Stück, in dem ein
paar Anschläge wirklicher Leidenschast wohl wieder auf-
horchen lassen, doch viel anfängerhafter als Kysers
früheres Drama. —

Wenn man weiter nach neuen Taten Umschau hält,
so sieht man ein Chaos durcheinanderwogender Jndi-
vidualitäten. Alles, was noch vor einem Jahrzehnt die
Geister in gewissen Gemeinsamkeiten zu binden schien,
was gewisse Gruppen selbständiger Persönlichkeiten doch
nach verwandten Stil wenigstens streben ließ, hat sich
inzwischen zersetzt. Der Naturalismus ist schon so lange
und so gründlich tot, daß er nächstens wieder auferstehen
könnte; die dramatische Romantik ist an ihrer Wider-
natürlichkeit — war ihr Gemeinsames doch eine höchstens
lyrisch zu fassende melancholisch haltlose Weltansicht —
zugrunde gegangen; und selbst die neuklassische Schule,
die von der Jdee der Form und des Gesetzes aus eine
künstlerische und sittliche Erneuerung der dramatischen
Kunst zu unternehmen wagte, eristiert heute nicht mehr.
Es gibt heute nur noch einen Neuklassiker, und das ist
Paul Ernst. Die zweifellos geniale Einseitigkeit, mit
der dieser Mann seinen schnurgeraden Weg geht, gehört
zu den wenigen ethisch erschütternden Dingen modernen
Kunstlebens, auch für den, der durchaus nicht gewillt
ist, ihm auf seinem Wege zu folgen. Ernst war einst

* Von Reinhardt erst in den Berliner Kammerspielen, dann
in Hamburg, Wien u. a. O. in der Arena gespielt. Buch bei Fleischl
L Co., Berlin.

** Uraufführung am Bremer Schauspielhaus. Buch bei
S. Fischer, Berlin.

der Bundesgenosse des gleich konsequenten aber geistig
viel unbedeutenderen Arno Holz im Naturalismus
88.NS xliraso. Aber während Holz auf seinem Wege der
Naturahmung konsequenterweise zu einer grausig raffi-
nierten Kolportage gekommen ist (wie seine letzten Stücke
es beweisen!*), schuf Ernst seinen tieferen Bedürfnissen
mit dem Temperament des großen Fanatikers, der nur
in Ertremen leben kann, Genüge, und ward aus einem
Naturalisten, Materialisten und Demokraten der Aristo-
krat, der Jdealist und Klassiker, für den nichts als der
formgebende Geist in der Natur wahre Wirklichkeit hat.
Schritt für Schritt treibt er seit einem Jahrzehnt aus
seinen Dramen die Materie, die sinnliche Jllusion aus,
und macht die Szene immer mehr zum neutralen Schau-
platz für das Streitgespräch sittlicher Kräfte. Jn seinem
jüngsten Schauspiel „Manfred und Beatrice"** wechselt
jeder Akt zwischen einem kleinen und eineni großen
Palastzimmer, und ivenn in dem großen Zimmer zwischen
einem edlen und einem gemeinen Manne, einer pro-
blematischen und einer harmonischen Frauennatur fast
abstrakte Schuldfragen diskutiert und durch ein Minimum
andeutender Handlungen erledigt sind, gibt im kleinen
Aimmer die chorartig wechselnde Rezitation eines Staats-
mannes und eines Priesters noch einmal das ethische
Resümee. Man sieht, wie bewußt und planvoll hier die
Welt der Shakespeareschen Jllusionsdramatik verleugnet
wird; — aber man sieht auch, wie wenig der stärkste
und reinste Geist jene Linien rechnerisch nachziehen
kann, die sich den Helenen als unwillkürliche Gefühls-
entladung zur Harmonie der griechischen Tragödie zu-
sammenschlossen. Jm Ernstschen Werk wird die reine
Gefühlshingabe, die nun einmal der Muttergrund jeder
Kunst bleibt, vom Willen und Wissen beinahe völlig
überdeckt. Es ist deshalb charakteristisch, daß ihm kunst-
ähnlichere Wirkungen noch in der satyrischen Komödie
gelingen, die, von jeher dem moralistisch Lehrhaften ver-
wandt, besser Ernsts spezifisches Temperament auf-
saugen kann. Sein neues Lustspiel „Der heilige
Crispin"f, ordnet eine Kette lateinisch starrer, aber
sehr witzig gefaßter Typen menschlicher Eitelkeit um
das Bild des lieben Heiligen, der Leder stiehlt, um den
armen Leuten Schuhe zu machen. Und in diesem
scherzenden, stets nur halbe Hingabe fordernden Ton
kann man die edle Geistigkeit der Ernstschen Sprache
besser genießen, als in seiner Tragödie, die uns die auf-
wühlendsten, besinnungslosesten der Leidenschaften meint
in der Form steinharter Begriffe reichen zu können. —
Wie hoch oder gering man aber auch den Lebenswert
der Ernstschen Produktion anschlagen mag, sein Be-
kenntnis zum Geist ist in dieser verwirrten Zeit so wichtig,
die eherne Unbeirrtheit seines künstlerischen Weges an
sich so beispielswürdig, daß ihm jeder Erfolg zu wünschen
wäre. So muß man sich freuen, daß endlich die harten
Ohren unserer Bühnenleiter anfangen, zu hören, was
die wenigen seit einem Jahrzehnt ihnen über die Be-
deutung des Mannes redenj--s. Sicherlich werden von

* „Sonnenfinsterms", am Hamburger Schauspielhaus gespielt.

** Buch im Derlag der „Neuen Blätter", Berlin. Noch un-
gespielt.

t Buch bei Meyer L Iessen, Berliu. Noch ungespielt.

^ jü Ernsts „Brunhild" wurde in Cottbus, seine „Ariadne auf
Naxos" in Weünar und im Soinmer auch noch im Berliner
„Kleinen Theater" gespielt.

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