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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 24.1914

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Heft 12
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Swarzenski, Georg: Salve crux laudabilis!: zur Ausstellung des Kreuzigungsaltars in der Städtischen Skulpturensammlung zu Frankfurt
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https://doi.org/10.11588/diglit.26492#0403

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Abl'. 3.

Die Apostel; Seitenfiguren vom Kreuzigungsaltar in Frankfurt a. M.

Gotik, als ein Stück nordisches Mittelalter emp-
findet.

Wir vermögen in dem Mittelalter, wie es die galli-
schen und germanischen Völker gestaltet haben, etwas
anderes und mehr zu sehen, als die Romantiker, die,
so tief sie sein Wesen geahnt haben, es vor allem im
Gegensatz zur Aufklarungszeit und zum Klassizismus
betrachteten. Wir sehen im Mittelalter nicht nur das
„Romantijche": die Ekstase deü Gefühls und die reli-
giöse Jnbrunst, die wunderbare Mischung von Glauben
tmd Sinnlichkcit, die Spannung und Überspannung
des Denkens und Handelns — die Abenteuerlust der
Kreuzzüge, die Farbigkeit des ritterlichen Lebens, die
Bildhaftigkeit des Kultus! Wir sehen in ihm vor allem
die große Einheit eines Weltgefühls, die die Kraft in
sich barg, gesteigerte Lebensformen zu schaffen und all
seine Außerungen zu einem erhöhten Stile zu formen.
Daher bewundern wir in ihm die Möglichkeit, das Leben
nach rein geistigen Absichtcn zu gestalten und visionäre
Vorstellungen in Gebilden, die so machtig sind, wie
das Leben selbst, zu verwirklichen. Seine Primitivitat
erscheint uns aber nicht als ein überwundenes Ent-
wicklungsstadium. Sie ist eine Verknüpftheit mit den
elementaren Mächten des DaseinS, ein ursprüngliches,
leidenschaftlich gespanntes Verhältnis zwischen den
Menschen, der Erde und den Dingen, ivie es der
Kampf, der Haß, die Sehnsucht und die Liebe gibt.
Dics ist es, was in dcn Menschen des Mittelalters die
Kraft erzeugte, ihrem Leben und ihren Gebilden jene
Form und Organisation zu verleihen, die wir als
Stil enipfinden.

llns heute verkörpert sich das am greifbarsten in
der Gestaltenwelt, die die bildnerische Kunst deS Mittel-
alters hinterlassen hat: in den Skulpturen der Kathe-
dralen, auf den Altären, an den Grabmälern: Bild-
werke, die nicht die Abbilder eines uns nahen oder

fernen Lebens sind (im Sinne der darstellenden Kunst
der Neuzeit), sondern selbst ein Teil eines Lebens,
vom gleichen Lebensstrom gestaltet, von dem gleichen
Rhythmus, den gleichen Energicn und Gesetzen ge-
tragen. Jhre Form dient nicht der Darstellung einer
Wirklichkeit (weder ihrer Gegenständlichkeit im Sinne
des Realismus, noch ihrer Erscheinung im Sinne des
JmpressionismuS), sondern bedeutet die Schöpfung
einer eigenen Wirklichkeit, die allerdings sich selbst
Aweck ist, aber (im Gegensatz zu allem Artifiziellen)
ein Ausdruck des Lebens. Jhre Gebundenheit ist nicht
ein Iurückbleiben hinter der Wirklichkeit, sondern For-
mung, Bändigung, Rhythmus, und ihre Formen wer-
den um so gebundener und strenger sein, je sprung-
hafter und ungehemmter der Strom und Drang des
Lebens selbst ist, den ihr Schöpfer zu bändigen hat.

Als die höchste Znkarnation solchen Formwillens
erscheint innerhalb der abendländischen Kunst die ro-
manische Monumentalplastik Frankreichs und Deutsch-
lands. Sie wandelt sich, indem ihre Formen — streng
bewastrt, wie ein geheiligter, schwer errungener Besitz
- immer reicher gestaltet werden, immer bewußter
auf Rhythmus und Bewegung sich richten, immer be-
stimmter zum Ieichen des Ausdruckes und zur Geste
werden: bis zur Entstofflichung, die das Stil-
ideal der Hochgotik charakterisiert. Dann, im weiteren
Verlauf des 14. Jahrhunderts, werden ihre Gebilde
wieder dichter und dinghafter, die Formenfreudigkeit
verlangt nach einer reicheren und überschüssigen Materie,
in der sie sich spielend ergehen kann, und die Durch-
führung der Formen wird so weit getrieben, daß, wer
an kargere und gröbere Mittel gewöhnt ist, sie als
Schnörkel empfinden kann. Hand in Hand geht eine
unendliche Verfeinerung des Formengefühls und der
Auffassung, die der Verfeinerung und Überfeinerung
des ganzen Daseins entspricht, die das höfisch - ritter-

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