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STEPHAN KEKULE VON STRADONITZ: ZWEI DEGEN UND EIN SCHWERT USW.
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richtend ist festzustellen: Die mitteleuropäische
Tracht hätte sich nicht zur heutigen Mode-
tracht entwickeln können, wenn sie nicht die be-
bequemen asiatischen Gedanken in sich aufgenommen
hätte: Der geknöpfte Rock des 14. Jahrh., die knopf-
lose Schaube des 15. u. 16. Jahrh. und die Hongroline
des 17. Jahrh. waren ihre Entwicklungsetappen.
Aber die Grundgedanken entstammen weder
dem antiken, noch dem romanischen, noch dem
slavischen Kulturkreis, sondern dem germa-
nischen.
Überreste der germanischen Tracht haben sich
bis jetzt noch erhalten teils als Erinnerungen in den zu
festlichen Gelegenheiten noch getragenen Volks- und
Landestrachten, teils in der Zweck- und Nutztracht
des Volkes als vollkommen lebensfrische Trachtele-
mente. Zu letzteren gehören z. B. die seit dem 12.
Jahrh. verschwundenen Beinumwickelungen, die neu-
erdings als Wickelgamaschen in der Soldaten- und
Sporttracht wieder aufgetaucht sind; ferner aber vor
allen Dingen der niemals ganz ausgestorbene Wetter-
mantel der bayrischen und tiroler Älpler, der ponchoar-
tigeLodenkotzen.Die eigentlicheVolkstracht birgtnoch
manches alte Stück, so z. B. die oberbayrische Knie-
hose und die „Brökers“ (altdeutsch bruch), die Was-
serhose der friesischen und holländischen Küstenbe-
wohner. Aber hauptsächlich sind es die ringsum ge-
schlossenen ungegürteten Hemdkittel der in den alt-
germanischen Gegenden, Rheinfranken, Thüringen,
Hessen, im Ries usw., welche noch den alten Hemd-
gedanken klar zum Ausdruck bringen. Auch die roten
Tuchkittel der Hauensteiner im badischen Schwarz-
wald sind viel älter, als ihr jetziges, aus dem
16. Jahrh. stammendes Exterieur.
Aber der eigentliche Schlüssel, der dem Trachten-
forscher die Herkunft der Volkstrachten erschließt,
liegt weniger in der Gestaltung der Oberkleider, als
in der Konstruktion der Hemden, soweit sie noch
altes Heimerzeugnis sind. Darauf sollte das Augen-
merk gerichtet sein, ehe sie ganz verschwinden.
Frauen- und Männerhemden haben oftmals verschie-
denen Schnitt oder verschiedene Verschlußmethoden.
Dieses rein Handwerkliche weist die Spuren der alten
Herkunft aus dem Volkstum auf.
ZWEI DEGEN UND EIN SCHWERT FRIEDRICHS DES GROSSEN
VON DR. STEPHAN KEKULE VON STRADONITZ
Es ist allgemein bekannt, daß Napoleon sich 1806
einen Degen Friedrichs des Großen in Potsdam ange-
eignet und als Siegesbeute nach Paris geschickt hat.
In den gangbarsten Geschichtswerken kann man fin-
den, dieser Degen sei nach dem ersten Pariser Frie-
den nach Berlin zurückgekehrt. So sagt Treitschke
(I, 564): „auch der Degen Friedrichs des Großen
fand sich wieder“, Berner (S. 535) weiß zu be-
richten: „Wie jubelte man in Berlin, daß man den
Degen Friedrichs wieder hatte, und die Quadriga das
Brandenburger Tor schmückte“, undBernhard Rogge
gibt in seiner „Geschichte der Kgl. Hof- und Garni-
sonkirche zu Potsdam“ (1882) sogar an, der im Ho-
henzollern-Museum befindliche Degen sei der aus
Paris zurückgeschaffte (S. 46). Rogge hat hiermit
nur den allgemeinen Glauben wiedergegeben. Und
docli handelt es sich um zwei verschiedene Waffen.
Jena und Auerstädt waren geschlagen. Am 24. Okt.
1806 war Napoleon um 11 Uhr vormittags in Pots-
dam und bezog im Stadtschloß die für ihn
bestimmten Gemächer. Über das, was mit der Ent-
führung des Degens zusammenhängt, gibt es einen
sehr genauen handschriftlichen Bericht des Napoleon
zugeteilten Preußischen Kammerdieners Tamanti,
aus dem Bogdan Krieger, der Kgl. Hausbibliothe-
kar, in der Sonntagsbeilage der „Vossischen Zei-
tung“ x) alles wesentliche veröffentlicht hat.
Tamanti hat aufgezeichnet: „Hierauf wandte sich
der Kaiser — es handelt sich um die Besichtigung
der Zimmer Friedrichs des Großen — zu seinen
Generalen und sagte: »Sehen Sie, meine Herren!
Hier ist noch Musik von Friedrich dem Großen,
welche er selbst geblasen hat. Er war ein großer
Musikus! Und was ist dies für ein Degen, der hier
auf dem Tische liegt?« Es war der Degen Friedrichs
des Großen, den man ebenso wie ein in demselben
Zimmer befindliches Kästchen mit dem Ornate des
Regimentes, welches Friedrich in Petersburg gehabt,
in der Bestürzung beiseite zu schaffen vergessen
hatte. Da dieser Degen schon seit vielen Jahren meh-
reren französischen Militärpersonen bekannt war, und
dies sogar einer der ihn umgebenden Adjutanten
äußerte, so war man in die Notwendigkeit versetzt, zu
antworten, daß es ein Interimsdegen des unsterb-
x) Nr. 34 v. 25. Äug., Nr. 35 v. 1. und Nr. 36 v. 8. Sept.
1901.
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STEPHAN KEKULE VON STRADONITZ: ZWEI DEGEN UND EIN SCHWERT USW.
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richtend ist festzustellen: Die mitteleuropäische
Tracht hätte sich nicht zur heutigen Mode-
tracht entwickeln können, wenn sie nicht die be-
bequemen asiatischen Gedanken in sich aufgenommen
hätte: Der geknöpfte Rock des 14. Jahrh., die knopf-
lose Schaube des 15. u. 16. Jahrh. und die Hongroline
des 17. Jahrh. waren ihre Entwicklungsetappen.
Aber die Grundgedanken entstammen weder
dem antiken, noch dem romanischen, noch dem
slavischen Kulturkreis, sondern dem germa-
nischen.
Überreste der germanischen Tracht haben sich
bis jetzt noch erhalten teils als Erinnerungen in den zu
festlichen Gelegenheiten noch getragenen Volks- und
Landestrachten, teils in der Zweck- und Nutztracht
des Volkes als vollkommen lebensfrische Trachtele-
mente. Zu letzteren gehören z. B. die seit dem 12.
Jahrh. verschwundenen Beinumwickelungen, die neu-
erdings als Wickelgamaschen in der Soldaten- und
Sporttracht wieder aufgetaucht sind; ferner aber vor
allen Dingen der niemals ganz ausgestorbene Wetter-
mantel der bayrischen und tiroler Älpler, der ponchoar-
tigeLodenkotzen.Die eigentlicheVolkstracht birgtnoch
manches alte Stück, so z. B. die oberbayrische Knie-
hose und die „Brökers“ (altdeutsch bruch), die Was-
serhose der friesischen und holländischen Küstenbe-
wohner. Aber hauptsächlich sind es die ringsum ge-
schlossenen ungegürteten Hemdkittel der in den alt-
germanischen Gegenden, Rheinfranken, Thüringen,
Hessen, im Ries usw., welche noch den alten Hemd-
gedanken klar zum Ausdruck bringen. Auch die roten
Tuchkittel der Hauensteiner im badischen Schwarz-
wald sind viel älter, als ihr jetziges, aus dem
16. Jahrh. stammendes Exterieur.
Aber der eigentliche Schlüssel, der dem Trachten-
forscher die Herkunft der Volkstrachten erschließt,
liegt weniger in der Gestaltung der Oberkleider, als
in der Konstruktion der Hemden, soweit sie noch
altes Heimerzeugnis sind. Darauf sollte das Augen-
merk gerichtet sein, ehe sie ganz verschwinden.
Frauen- und Männerhemden haben oftmals verschie-
denen Schnitt oder verschiedene Verschlußmethoden.
Dieses rein Handwerkliche weist die Spuren der alten
Herkunft aus dem Volkstum auf.
ZWEI DEGEN UND EIN SCHWERT FRIEDRICHS DES GROSSEN
VON DR. STEPHAN KEKULE VON STRADONITZ
Es ist allgemein bekannt, daß Napoleon sich 1806
einen Degen Friedrichs des Großen in Potsdam ange-
eignet und als Siegesbeute nach Paris geschickt hat.
In den gangbarsten Geschichtswerken kann man fin-
den, dieser Degen sei nach dem ersten Pariser Frie-
den nach Berlin zurückgekehrt. So sagt Treitschke
(I, 564): „auch der Degen Friedrichs des Großen
fand sich wieder“, Berner (S. 535) weiß zu be-
richten: „Wie jubelte man in Berlin, daß man den
Degen Friedrichs wieder hatte, und die Quadriga das
Brandenburger Tor schmückte“, undBernhard Rogge
gibt in seiner „Geschichte der Kgl. Hof- und Garni-
sonkirche zu Potsdam“ (1882) sogar an, der im Ho-
henzollern-Museum befindliche Degen sei der aus
Paris zurückgeschaffte (S. 46). Rogge hat hiermit
nur den allgemeinen Glauben wiedergegeben. Und
docli handelt es sich um zwei verschiedene Waffen.
Jena und Auerstädt waren geschlagen. Am 24. Okt.
1806 war Napoleon um 11 Uhr vormittags in Pots-
dam und bezog im Stadtschloß die für ihn
bestimmten Gemächer. Über das, was mit der Ent-
führung des Degens zusammenhängt, gibt es einen
sehr genauen handschriftlichen Bericht des Napoleon
zugeteilten Preußischen Kammerdieners Tamanti,
aus dem Bogdan Krieger, der Kgl. Hausbibliothe-
kar, in der Sonntagsbeilage der „Vossischen Zei-
tung“ x) alles wesentliche veröffentlicht hat.
Tamanti hat aufgezeichnet: „Hierauf wandte sich
der Kaiser — es handelt sich um die Besichtigung
der Zimmer Friedrichs des Großen — zu seinen
Generalen und sagte: »Sehen Sie, meine Herren!
Hier ist noch Musik von Friedrich dem Großen,
welche er selbst geblasen hat. Er war ein großer
Musikus! Und was ist dies für ein Degen, der hier
auf dem Tische liegt?« Es war der Degen Friedrichs
des Großen, den man ebenso wie ein in demselben
Zimmer befindliches Kästchen mit dem Ornate des
Regimentes, welches Friedrich in Petersburg gehabt,
in der Bestürzung beiseite zu schaffen vergessen
hatte. Da dieser Degen schon seit vielen Jahren meh-
reren französischen Militärpersonen bekannt war, und
dies sogar einer der ihn umgebenden Adjutanten
äußerte, so war man in die Notwendigkeit versetzt, zu
antworten, daß es ein Interimsdegen des unsterb-
x) Nr. 34 v. 25. Äug., Nr. 35 v. 1. und Nr. 36 v. 8. Sept.
1901.
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