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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 2.1888-1889

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Heft 15
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Biese, Alfred: Kunst- und Naturgenuss
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11724#0233

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gelesen haben, in uns wiederklinat, sondern wir deuten
die Spiegelung sogleich um in ein Ächselbstbeschauen
der Natur; wir leihen ihr ein däminerndes chelbstbe-
wußtsein, das sich selbst genießt; wir legen gleichsam,
was träumerisch und ahnungsreich in unserer Seele
lebt, hinein in die ruhige wasserstäche mit ihren zarten
Formen, mit dieser ineinander rinnenden und ver-
schmelzenden Doppeltsetzung der Lrscheinungen. —
Gder sehen wir gewaltige Gebirgsbildungen aussteigen,
so können wir nicht nmhin, uns hineinzudenken in
sene treibende Kraft, welche diese Niesenblöcke hob
und dann erstarrte, und noch einmal durchzuempfinden
jene Rämpfe, in denen sich aus tiefem chchoße diese
Formen emporrangen. — weit mehr Stützpunkte für
dies körperliche und geistige Übertragen als die an-
organische Natur bietet natürlich die organische: die
f)flanze und das Tier. Bei letzterein unterscheiden
wir Tharaktere, und da stießen schon die Grenzlinien
zwischen Mensch und Tier ineinander; bei der Pflanze,
diesem saugenden, von Leben strotzenden wesen haben
wir den Tindruck des Atmens, des chtrebens nach
chelbfterhaltung; und wir leihen ihr eine Seele, sei es
nun die schlummernde Aindesseele oder die aufstrebende
des Atannes, oder in den waldesriesen denken wir
die Tmpstndungen des Greises hinein, der s)ahrhunderte
an sich vorübergehen sah. Und hören wir die Blätter
rauschen oder erzittern, oder neigt sich im winde die
Blume, so erscheint uns diese äußere Trscheinung als
das widerspiel eines inneren Borganges - ein
lieblicher Gedanke schaukelt das Aöpfchen hin und her;
der eine Bauin atmet Anmut, der andere 'bkraft, ein
dritter wehmut und Trauer.

wie aber mit den einzelnen Naturformen, fo steht
es auch mit deren Gruppen, ich ineine: mit ganzen
Landschaften. chie wirken nur, wenn der Beschauer
selbst seine welt von Gedanken nnd Lmpstndungen in
sie hineinlegen kann, wenn er den elementaren An-
regungen und Reizen, welche die Linien und Farben

erzeugen, nachgehen und das Linzelne durch das
Band der eigenen seelischen chtimmung verknüpfen
kann (sei es nun im Tinklang oder im widerspruch).
Daraus geht schon hervor, daß nicht bloß in ver-
schiedenen Zeiten, sondern auch bei den verschiedenen
Menschen derselben Zeit, wie ja auch bei dem-
selben Menschen in verschiedenen Zeiten die mannig-
fachsten Abstufungen und eigenartigen verschiedenheiten
des Naturgenusses hervortreten, wie ich das in meinem
Buche über die Tntwickelung des Naturgefühls ein-
gehend behandelt habe. cho chamäleonartig wechselnd
unfer Runstgeschmack heutigen Tages ist — alle chpuren
einer Übergangsepoche an sich tragend — , ebenso
alle chchattirungen des Trhabenen und Tiefen, des
Tmpstndsamen und Gesuchten, Gesunden und Rrank-
haften zeigt unser moderner Naturgenuß; viele geheime
Neize der Natur hat uns die Naturerkenntnis enthüllt,
von denen das Altertum nichts ahnen konnte, aber mit
dieser Lrweiterung verbindet sich nicht immer Nertie-
fung. Die heutige Sucht, zu reisen, wurzelt nicht
immer in der Liebe zur Natur, sondern verbindet sich
nur zu oft mit den nüchternsten Znteressen und berech-
netsten Genüssen — es bleibt auch heute immer noch
wahr, was auch das Altertum bestätigt, daß nur wcr
Geist und Lserz besitzt, die chprache der Natur versteht.
Und es ist noch ein anderes, halbbewußt zu genießen,
ein anderes, fich selbst und anderen den Genuß zu
vermitteln, Rünstler zu sein. wer mit wort oder
Ton oder Farben dieses Dermitteln unternimmt, der
muß freilich vor Allen im chtande sein, die Natur mit
eigenem Geist, mit eigener Seelenstimmung zu durch-
dringen und zu vwschmelzen und über sie den warmen
chtrom herzlichen und tiefen Lmpstndens zu ergießen:
Za, legt nur in die ewige Natur
Aus Geift und bf^l'zen euer Bestes nieder,

Äe giebt euch alles, alles — wartet nur —

Attt vollen bf^uden tausendfältig wieder.

Nttred Miese.

Mgememeres.

Ikundsckttu.


» „Vom Mpiernen Ltil" handelt ein Schrift-
chen Gtto Schröders (Berlin, walther öc Apolant).
Alle, die mit der Feder zu thun haben — und
deren giebt es ja in unsrer schreib- und druckseligen
Zeit wahrlich nicht wenige — sollten es eifrigst stu-
diren. Zm erften Aufsatz wird dem „großen j?a-
piernen" zu Leibe gegangen, d. i. dem pedantischen
Schreibstil unsrer Tage, der mehr und mehr den
Zusammcnhang mit dem gesprochnen worte verliert,
überall abgerundete Sätze, vollftändig ausgeschriebene
worte verlangt, über diesem Streben nach optischer
Deutlichkeit aber die Unmittelbarkeit des Ausdrucks
aus den Augen verliert. Der Derfasser hegt auch die
Zuversicht, daß zur Nmkehr noch Zeit sei. Ob der
bekannte Schulmeister bei Sadowa gesiegt habe, be-
kennt er nicht zu wissen; das aber wisse er, daß der
deutsche Doktrinär dort auf den Tod verwundet
worden sei. Zst man im Unklaren darüber, ob ein
Ausdruck papieren oder lebendig, so wende man sich
nur an die Frauen: was man zu ihnen niemals sagt
und aus ihrem Uttmde niemals hört, und was sich
weder von ihnen noch zu ihnen gesprochen denken
läßt, das ist ficher papieren. — Zm zweiten Aufsatze

wird dann an dem wort „derselbe" (in der Bedeu-
tung von „er") gezeigt, wie unmodern, grundlos
pathetisch und daher subaltern der j?apierne ift. Dieses
Unwort von drei tonlosen Silben (unterschieden von
der in zwei wörter zu trennenden Zdentitätsbeziehung
„der selbe") wird als eine entkernte Üillse,
nervter Uluskel bezeichnet, der mündlichen Sprache
unbekannt, daher unheimlich dem klopfenden Lserzen
und widrig warmen ^ippen. Zm höchsten Grade an-
regend und belehrend ist die Uebersicht über die Ver-
wendung dieses worts durch die namhaftesten deut-
schen Schriftsteller der Vergangenheit und Gegenwart,
ein Seitenstück zu Grimms Bemerkungen

über den Stil der einzelnen deutschen Schriftsteller im
Februarhefte der „Deutschen Nundschau". Da zeigt sich,
daß Luther freilich dies jDronomen gern verwendete,
aber immer mit Nachdruck; bei Leibniz kommt es
nur in bestimmten aus architektonischer Nücksicht ge-
forderten chatzbildungen vor; seit der Utttte des vorigen
Zahrhunderts aber wird sein Gebrauch so gut wie
allgemein. Der junge Goethe allerdings steht dem
wort noch ganz fern; bei den wenigen Ausnahmen
lassen sich bestimmte Gründe angeben; erst seit der


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