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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 2.1888-1889

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Heft 16
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11724#0250

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Dicl)tun§. H? U11 ^ 9 I) A U.

» „Die realisttscde Wexvegung" in unserem
Schrifttum bespricht Heinrich t^art im ersteu Lsefte
des vou ihm und seinem Bruder herausgegebenen
und in der vormals Bichterschen Buchhandlung zu
Lsamburg verlegten „Rritischen Iahrbuchs", einer
neuen Zeitschrist, die wir der Unterstützuug der ge-
bildeten Lieserwelt angelegentlich empsehleu. Um die
Guellen der Uunst zu finden, geht der Bersasser bis
zur Betrachtung des Urmeuschen zurück. <Lr schildert
beispielsweise dessen Lmpfindungen beini Anbliek eines
geliebten Meibes. „Lucht er sich klar darüber zu
werdeu, wodurch all diese eigue wilde und leiden-
schastliche Lrregung in ihm wachgerufeu worden, so
tritt er aus der Gestaltung des Lubjektiven in eine
Gestaltung des Gbjektiven hinein. Lr sieht jenes
weibliche Mesen vor sich und er malt sich in leb-
haften Farben die Neizs- aus, die ganz besonders fein
Mohlgefallen entzündeten. Und wenn er auch tausend
Uleilen fern vou der Geliebten sich besindet, fo ge-
nügt auch diese bloße jdhantasievorstellung, daß ihnr
seiu Blut entbreniit." Der Genuß einer Ltunde wird
so für ihn zu dauerndem Beiz. 2lber in gewissem
Grade auch für den gailz Unbeteiligten, wenu
diesem durch Morte, Gebärden, Töne die Lmpfindungen
und Borstellungen jcnes Liebenden wiedererweckt
werden. „Die sshantasie also ermöglicht es dem Geiste,
daß er einmal gesehene Bilder und Vorstellungen
innner in ihrer ganzen Natur- und Lebensfülle zurück-
rufen kann. Die geistige Fähigkeit uun, welche diese
Bilder der s)hantasie und die von ihnen hervorge-
rufenen, an ihnen wach werdenden Gefühle und Leiden-
schafteu zum Ausdruck bringt, d. h. gestalten kann,
so daß die Bilder der jdhantasie vor Zeden hintreten,
so daß die Gesühle Zeden packen und ergreifen, als
wenu er sie iu Mirklichkeit erlebte, . . diese Fähigkeit
ist die künstlerische. wie die Missenschaft giebt
also auch sie eine bserrschaft über die Natur, indem
sie das Borübergehende festbannt und zu einem
Dauernden macht. Das Lchlachtlied, in der Lrregung
einer Stunde geschaffen, kanu noch nach Zahrtausenden
dieselbe Lrregung wachrufen, auch wenn eine äußere
natürliche die Leidenschaflen sonst erweckende Derau-
lassung nicht vorhanden ist; das Liebeslied ruft die
zartesten und inuigsten oder mächtigsten Lustgefühle in
uns wach, mag das Lserz anch vou der wirklichen
natürlichen Liebe nicht getroffen sein." Dichteu ist
ebenso wie Lrkennen in den Grundwurzelu Allge-
meingut der A'lenschen. Ls besteht auch keiu
wesentlicher Unterschied zwischen dem wirklich Lr-
lebten und dem im Dichtungsgenusse Attterlebten.
Dermögen wir doch auch das wirkliche nicht anders
zu erfassen, als indem wir uns eiu Bild von ihm
durch die Zusammensetzung unmittelbarer Linnesein-
drücke erst im Geiste erzeugen, unbewußt freilich, aber
unbewußt thun wir das auch den Anregungen des
Dichters gegenüber. Ls besteht uur eiu formaler
Unterschied. Liu Beispiel: „welch einen Gegensatz
bildet ein Zahr der Liebe, wenu es erlebt und weun
es dichterisch gestaltet, obwohl beidemal die Liebe,
mithin das Ltoffliche, ganz dasselbe ist." Der Dichter
„giebt Aufschluß über Alles, was die Lmpfindung
wie ihre Äußerungen hemmt und fördert, die äußere

Melt aber zeichuet er nur, um einen stimmungsvollen
Lsintergrund zu erhalten. Das poetische Zahr hat
denmach nur wenige Ltunden, aber es ist dafür iu
der That ein ^iebesjahr. Zn der wirklichkeit dagegen
ist nur eine «Auch-Äebe» möglich, das wirkliche Zahr
hat mehrere tausend Ltunden, und nur in einem
Lruchteil derselben ist der Läebende wirklich, was sein
Name besagt" — in den übrigen tritt das Tharak-
teristische eben der Liebe zurück und die Melt um
ihn hat zu seinem Znnern wenig Bezug. Mas aber
von der wirklichen Liebe gilt, das gilt vom Lrlebten
überhaupt, aus dem der Dichter das Zufällige ans-
scheidet „und alles Linzelne zu einer in sich abge-
schlossenen Linheit konzentrirt". „Die jdoesie ist so-
mit eine höhere potenz des Leienden, als
die Mirklichkeit." „Die Mahrheit, die als innerster
Aern in der Mirklichkeit eingeschlossen liegt, aber von
dem Mirrwar der Lrscheinungen verhüllt wird, kommt
in der Dichtung leicht und klar zum Dorschein. Wahr-
heit, psychologisch genommen, heißt eben nichts, als
innere Folgerichtigkeit, sicheres Nuhen in einem Lchwer-
punkt, Gleichgewicht aller Linzelteile. Dichterisch
schaffen heißt also, die Mirklichkeit zur Mahrheit
erheben."

Das wenigstens entspricht der eigentlichen Aufgabe
der j?oesie, der sie gerecht wird, je weiter sie sich
entwickelt. „Auf der Ltufe ihrer Rindlichkeit steht
die Dichtung der Mirklichkeit im Mesentlichen nur
aufnehmend gegenüber, sie spielt mit dem Ltoffe, wie
der Traum, und findet in der Lsust am Stofflichen ihr
Genüge. Auf dieser Ltufe bilden sich daher die
Mlärchen der Tausend und einen Nacht, auf ihr ver-
harren aber auch heute noch die meisten aller Romane,
deren klassischer vertreter der «Gras von Atonte-
christo» des älteren Dumas ist. Za, es ist nicht zu
viel gesagt, auch die Mafse der heutigen Leser ist
über die erste chtufe noch nicht hinausgedrungen, und
iu Ltunden der Lrschlaffung wird selbst der ästhetisch
gebildete, der ästhetisch moderne Mensch wieder Nind,
der Neiz des Ltofflichen übt auch auf ihn seine be-
rückende Gewalt aus. Das Zünglingsalter der j)oesie
kennzeichnet sich dadurch, das der Dichter das Ltoff-
liche wohl geistig zu erfasseu sucht, aber nicht
um das wirkliche selbst zu begreifen, nicht um es
zur Zdee zu erheben, nicht um es in seiner Mahrheit
zu gestalten, sondern nur um es als Symbol des
eigenen Lmpfindens auszubeuten, um es mit der
eigenen Lubjektivität zu erfüllen, kurz, um es
als bloße Form zu benutzen, in welche der Dichter
sein Zch hineinzulegen vermag. Mährend also auf
der ersten Ltufe der Ltoff alles in allem ist, wird er
auf der zweiten ganz und gar zur Nebensache, und
es ist selbstverständlich, daß der subjektive Dichter
keinen Nespekt vor dem Mirklichen hat, daß er es
verzerrt und modelt, wie es seinen Launen und seiner
Millkür gerade paßt. Braucht es noch gesagt zu
werden, daß diese zweite Stufe identisch mit der
Romantik ist? Der Nomantiker setzt sein Zch über
die Nlenschheit, über die welt, nur das Zch ist wirk-
lich, alles, was außerhalb desselben, Lchein, der nach
Belieben so oder so gedeutet werden kann. Der
Nomantiker sieht alle Dinge durch die Brille einer

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