Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 2.1888-1889

DOI Heft:
Heft 19
DOI Artikel:
Spitteler, Carl: Die Chorszene zu Anfang der Oper
DOI Artikel:
Rundschau
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.11724#0296

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext

den Fußboden angelötet. Nachdem der Lhor sein
ssied gesungen, schwenkt er, besten Falls, ohne weiteres
links und rechts ab, wie z. B. in „Zar und Zimmer-
mann". Lr hat nichts gethan und nichts geleistet,
er hat nur Rälte in den Zuschauerraum hineingesungen.
Da er überdies mit seinem Dasein etwas versprochen
hatte, was er nicht hielt, nämlich Leben und Bewe-
gung, so verursacht er neben der Langeweile obendrein
noch das Gesühl der Lnttäuschung; mit vergnügen
sieht man ihn denn auch hinter die Rulissen heim-
wackeln. Aber selbst nachdem er glücklich von hinnen
gezogen, beeinträchtigt er noch das Runstwerk; denn
eine Bühne, die sich soeben geleert hat, nimmt sich
kahler aus als eine solche, aus welcher von vornherein
nur die nötigen s)ersonen stehen; die unumgängliche
leidige Lxpositionsszene, die nun folgt, wird dabei nur
um so schwerer ertragen. Zn der That, einen Thor
auf die Bühne zu stellen, blos um ihn sobald wie
möglich davonschleichen zu lassen, das ist ein sonder-
barer Linsall, dem wir seinen unfehlbaren Mißerfolg
mit einiger Schadenfreude gönnen, weil er die Absicht
eines ästhetischen Betrugs verrät. Schlimmer noch
verhält es sich, wenn der Thor dableibt; denn das
bedeutet, daß er in naher oder serner Zukunft seinen
anspruchsvollen Hohlgesang Note für Note wieder-
holen werde. Leider schützt auch sein weggang keines-
wegs mit Sicherheit vor diesem verhängnis; wer
bürgt uns dafür, daß die Bande nicht heimtückischer
weise wieder hervorkriecht, um uns die zweite Auf-
lage zu verkaufen? Diese weitschweifigen, umständ-
lichen wiederholungen ganzer Abschnitte im Beginn
eines werkes, also zu einer Zeit, da unsere Sinne
wie unsere Gemütskräfte einhellig etwas Frisches ver-
langen, dieses Ltoppen der Lsandlung, ehe dieselbe
nur angefangen, diese Zumutung, wiederzukäuen, be-
vor man gegessen hat, das muß wohl der unglück-
lichste Handgriff heißen, der jemals in Runstsachen
versucht worden ist. Ls wäre kaum unvernünftiger,
wollte Zemand in der Instrumentalmufik wieder-

holungszeichen hinter die Linleitungsphrasen oor das
Thema setzen. Alles ist dem wleister von Natur und
vernunft wegen zu Anfang erlaubt, unbegrenzte Frei-
heit winkt ihm, und unsere phantasie ist bereit, ihm
willig in jede Ferne zu folgen; und siehe da: er be-
wegt sich uicht, und nachdem er sich eine lange weile
nicht bewegt, lädt er uns zum Rrebsgang ein.

Ze gründlicher die erste Azene gearbeitet wird,
desto schlimmer; will es Liner besonders gut machen,
so bringt er es wohl gar fertig, den ganzen ersten
Akt damit auszufüllen, daß er denselben überhaupt
nicht beginne, sodaß der vorhang in dem Augenblick
fällt, wenn wir eben hoffen, das ^tück höre endlich
auf, noch nicht anzufangen. Als ein lehrreiches Bei-
spiel dafür, wie bei unrichtiger Ntethode vermehrter
Lifer nur vermehrte Fehler erzeugt, gilt mir der erste
Akt der „Norma". bsier haben wir ein Wleisterwerk
eines Romponisten, der wahrlich um Lrsindungen nicht
verlegen gewesen wäre, falls er geglaubt hätte, sich
Fülle und Abwechselung am Anfang der Mper ge-
statten zu dürfen. Die gewissenhafte Bemühung um
möglichste Abrundung, Geschlossenheit und Linheitlich-
keit ließ ihn jedoch so unbarmherzig mit j)riesterchören
nnd mit Vervielfältigungen des Marschtemas handtiren,
daß wir uns noch in der Lrinnerung daran bekreu-
zigen. wir begegnen freilich auch in der alten Gper
j)roben einer frischen lebendigen Lhorführung in der
Linleitung; schon die „weiße Dame" mit dem holden
Zauchzen, mit dem natürlichen und dauerhaften L;in-
einspielen des Lhors in die bsandlung überwindet ja
die Aufgabe; doch das sind Ausnahmen.

warum ich aber im Zeitalter wagners auf solche
Dinge zurückkomme? weil wir doch die alten Gpern
um ihrer herrlichen musikalischen Schönheit willen
täglich anhören mögen, und weil ich die Lrfahrung
gemacht habe, daß Übelstände in jedem einzelnen Fall
geduldiger ertragen werden, nachdem man sie ein für
alle mal als solche erkannt und nachdem man ihre
Ursachen begriffen hat.

Larl Spitteler.


Allgemeineres.

* „Die Wedeutung der landsehattlieben
Äedöndett für die menschliche Geisteskultur" sucht
Ü- Sommer in einem Aufsatz der „Mitteilungen d.
d. u. ö. Alpenvereins" (9) darzustellen. Die Vorar-
beiten zur neuen Drahtseilbahn, die das Bodethal
bereits tapfer verunstalten, regten ihn zu seinen Be-
trachtungen an. „wlan läßt solches geschehen, weil
es angeblich zur Bequemlichkeit des j)ublikums, zur
Lrleichterung des Naturgenusses geschieht, nicht be-
denkend, daß durch solche Zurüstungen das wesen
der Schönheit selbst von Grund aus zerstört wird,
deren Genuß dadurch erleichtert werden soll." „Tief
zu beklagen ist es, daß der Begriff des Naturgenusses
überhaupt in seiner Ligenart dem Bewußtsein der
Zeitgenossen immer mehr zu entschwinden und sich in
den eines bloßen Amusements an der schönen Natur
aufzulösen droht. Zn immer weiterem Umfange
betrachtet man die Naturschönheit jetzt nur wie ein
Nlittel der Unterhaltung."

„worin besteht die landschaftliche Schönheit?"
fragt Sommer nun, giebt aber freilich keine eigentliche

Ikundsckau.

Antwort, verweist vielmehr auf die Lrfahrung, die
jeder an sich selber gemacht hat, auf das innere L r-
lebnis, das keinem fremd ist. Auch den Lrklärungs-
grund der Freude an der Natur will er nicht auf-
suchen — er glaubt ihn darin zu ahnen, daß ja
alles auf der welt, wie wir vernünftiger weise an-
nehmen müßten, einheitlichen Ursprungs sei: „ist es
da gar so wunderbar, wenn dieses allgemeine Für-
einandersein der Dinge und der lebenden wesen
auch im Bewußtsein der letzteren als Glück, als Be-
seligung empfunden wird?" Dann spricht er über
den wert des Naturgenusses für uns. Lr ist ihm
„Selbstzweck als einer der schönsten Lebensinhalte",
aber nicht nur dieses, sondern auch „Nkittel zur Lr-
reichung unserer menschlichen Bestimmung überhaupt."
„<Lr giebt den Nlenschen sich selbst wieder, wenn er
Lrhebung und Sammlung sucht. Ls ist, wie schon
Schiller in seinem Aufsatze über naive und sentimen-
talische Dichtung sagt: wir erleben im unmittelbaren
Lindrucke der schönen Natur, was wir waren, wir
sinden in ihr, was wir werden sollen. wir waren

- 2S0 -
 
Annotationen