Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 16.1900-1901

DOI Artikel:
Matthaei, Adelbert: Der aesthetische Genuss am Bauwerk, [2]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.12079#0181

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
-s-5^> DER AESTHETISCHE GENUSS AM BAUWERK -C^S=^

Abschnitte vorliegen, und dass wir jetzt mög-
licherweise am Anfang eines dritten stehen.
Die erste grosse Epoche, die mittelalterliche,
reicht bis zum Ausgang des vierzehnten Jahr-
hunderts und zerfällt wiederum in die früh-
germanisch-karolingische, die romanische und
die gotische. Der Kirchenbau ist es im wesent-
lichen, an dem die Entwickelung sich vollzieht.
Zuerst herrscht, was die Raumvorstellung an-
geht, in Anlehnung an die antikchristliche
Basilika, nur die Tiefendimension vor. Die
Bedachungsfrage ist in der einfachsten Weise
durch über Mauerwerk gelegte Holzbalken
gelöst. Die Frage der Lichtzuführung ist
mit Bewusstsein noch nicht in Angriff ge-
nommen. Die Formengebung bewegt sich
noch durchweg am Gängelbande der Antike
und der Aussenbau fällt noch oft auseinander.

Mit dem Erwachen des Nationalbewusst-
seins unseres Volkes in der Ottonenzeit hebt
eine neue Entwickelung an. Es ist nicht
mehr die eine Dimension, die vorherrscht,
sondern eine Harmonie der Abmessungen.
Ein Raum wird nach einem bestimmten System
an den anderen gebunden. Die gleiche Har-
monie herrscht in dem Verhältnis zwischen
Last und Träger. Riesige Gewölbelasten er-
fordern mächtige Stützen in Mauerwerk und
Pfeilern. Die gedämpfte, geringe Lichtzufüh-
rung entspricht diesem Gebundensein. In
der Formengebung tritt Eigenes neben das
Ererbte, und der Aussenbau stellt sich als
der vollkommene Ausdruck des im Inneren
herrschenden Raumgesetzes dar. Romanisch
nennen wir diese aus germanischem Geiste
geborene Bauweise, die unserem Volke bis
in den Beginn des dreizehnten Jahrhunderts
lieb war und die Begleiterin und Ausdruck
der ersten Blüte unseres Volkslebens ge-
wesen ist. —

Mit der gewaltigen Erschütterung der mittel-
alterlichen Welt durch die Kreuzzüge, dem
Rücktritt des deutschen Volkes von der aus-
schliesslich leitenden Stellung, dem Siege der
Kirche und dem Niedergang der bisherigen
Kulturträger vollzieht sich abermals eine ge-
waltige Veränderung des Raumsinnes. Die
Höhendimension überragt bei weitem die
übrigen, die Lasten verschwinden fast vor
den hochstrebenden Stützen. Vollendet wird
die Lichtzuführung, indem durch mächtige
Oeffnungen ein gebrochenes Licht eingelassen
wird. Zum erstenmale seit der Antike tritt
ein neues Ornamentierungsprinzip auf. Auf
die Gestaltung des Aussenbaus wird der aller-
grösste Wert gelegt, und entsprechend der
im Inneren dominierenden Achse streben ein
paar gewaltige Turmpyramiden am Eingang

der gotischen Kathedrale empor. Die Be-
nennung mit dem Namen eines germanischen
Volkes hat insofern Sinn, als auch diese Bau-
weise, wenn auch gewisse konstruktive Kon-
sequenzen zuerst in Frankreich gezogen sind,
auf germanischem Stamme erwachsen ist, wie
sie dann auch wohl in Deutschland schliesslich
die energischste Durchführung erfahren hat.

War die mittelalterliche Welt im Zeitalter
der Kreuzzüge erschüttert worden, so darf
man etwa seitdem fünfzehnten Jahrhundert von
einem völligen Zusammenbruch reden. Mit der
Auflösung des mittelalterlichen Geistes be-
ginnt die zweite Epoche der Baukunst. Wir
bemerken schon in Bauten des vierzehnten
Jahrhunderts einen neuen Raumsinn; aber es
scheint, als ob das Volk, anderen Aufgaben
zugewandt, nicht mehr die Kraft besessen
hätte, dafür durchweg neue Ausdrucksmittel
aus sich selbst zu finden. Der Formenschatz
bleibt noch bis tief ins sechzehnte Jahrhundert
hinein der alte. Diese zweite grosse Epoche
mit wenigen Worten nach den obigen Gesichts-
punkten zu charakterisieren ist nicht so einfach,
dass wir den Versuch in diesen knappen Blät-
tern wagen dürften. Nur die allerwichtigsten
Gesichtspunkte mögen hier Platz finden.

Die Stellung der Baukunst innerhalb des
Volkes wird eine völlig andere. Sie tritt aus
der breiten Schicht des Volkes heraus in die
offiziellen Kreise der oberen Zehntausend.
Die Technik geht in gelehrte Hände über.
Vor allen Dingen erweitern sich die Bauauf-
gaben und zwar unter offenbarer Zurück-
setzung des Sakralbaus, in dem sich nun ein-
mal der Monumentalsinn am klarsten doku-
mentiert, derartig, dass es schwer hält, mit
einem kurzen Wort den Raumsinn einheitlich
zu charakterisieren, der sich in den so ver-
schiedenartigen, im ganzen breiträumig ge-
dachten Anlagen offenbart. Vielleicht dürfte
das Charakteristische der ganzen Zeit eben
darin zu suchen sein, dass eine ausgesprochen
herrschende, dem deutschen Volke eigentüm-
liche Raumempfindung nicht festzustellen ist.
Die ganze Entwickelung vollzieht sich zumal
im deutschen Volke viel weniger aus Eigenem
als in dem ersten Abschnitte. Fruchtbare,
neue Ideen für die Baukunst, die in Deutsch-
land entstanden wären, wird man, abgesehen
von dem Beginn der Epoche, nur spärlich
finden, vielleicht am meisten im protestan-
tischen Kirchenbau und im Wohnbau. Unter
Anlehnung an Vorhandenes werden die tech-
nischen Probleme gelöst. Die Formengebung
zehrt an dem in der Renaissance unter An-
lehnung an die Antike Geschaffenen. Der
Aussenbau wird häufig zur Attrappe, die die

170
 
Annotationen