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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 25.1927

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Heft 9
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Glaser, Curt: Das Cézanne-Buch Joachim Gasquets, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7392#0350

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möchte kein solcher Dilettant sein. Ich will eben
ein richtiger Klassiker sein, ich will durch die
Natur, durch die Sensation wieder klassisch werden.
Früher hatte ich ganz wirre Gedanken. Das Leben!
das Leben! Ich führte stets dies Wort im Mund.
Ich wollte das Louvre niederbrennen, ich armer
Schlucker! Man muß durch die Natur hindurch
zum Louvre kommen und durch das Louvre hin-
durch zur Natur zurückfinden."

Unter den alten Meistern gehörte Tintoretto zu
denen, die Cezanne aufs höchste bewunderte:

„Haben Sie in Venedig den riesenhaften Tinto-
retto gesehen, auf dem das Festland und das Meer,
die Erdkugel über den Köpfen schweben, mit dem
Horizont, der sich verschiebt, der Tiefe, mit den
fernen See-Prospekten, mit den Körpern, die fort-
fliegen, mit der ungeheuren Rundung, der Welt-
karte, dem hingeworfenen Planeten, durch den un-
endlichen Äther fallend, rollend? Und das in seiner
Zeit! Er hat unsere Zeit vorausgesagt. Er war
schon von demselben kosmischen Drang besessen,
der uns verzehrt. Na, und nun: ich bin fast da-
von überzeugt, daß er beim Malen an nichts dachte
als an seinen Plafond, die Volumen gleichmäßig
zu verteilen, die Valeurs nebeneinander zu setzen:
mit einem Wort, gut zu malen. Aber gut malen
heißt eben ganz instinktiv seine Epoche in ihrem
höchsten Fortschritt auszudrücken, auf dem Gipfel
der Welt zu stehen, auf der höchsten Stufe der
Menschheit. Die Worte, die Farben haben einen
Sinn. Ein Maler, der seine Grammatik am Schnür-
chen weiß, und der an seinem Satzbau bis zum
äußersten arbeitet, doch ohne ihn zu zerbrechen,
der das, was er sieht, aufs treueste durchpaust,
überträgt auf seine Leinwand fast unbewußt das,
was der erleuchtetste Geist seiner Zeit gedacht hat
oder im Begriff ist zu ersinnen. Giotto entspricht
Dante, Tintoretto Shakespeare, Poussin Descartes,
Delacroix wem? Es ist unsinnig, eine fix und fer-
tige Mythologie, Ideen über feststehende Gegen-
stände im Kopf zu haben und das zu kopieren statt
der Wirklichkeit, solche Phantasien statt der Schöp-
fung. Diese Scheinmaler sehen nicht einen be-
stimmten Baum, ein bestimmtes Gesicht, einen be-
stimmten Hund, sie sehen den Baum, das Ge-
sicht, den Hund, das heißt: sie sehen eben nichts.
Denn zwei Dinge sind niemals einander gleich.
Immer schwebt ein feststehender nebelhafter Typus,
den eine Generation der anderen vererbt, zwischen

ihren Augen — ja, haben sie denn überhaupt
Augen? — und ihrem Modell. Ja, große Gesetze,
große Prinzipien sind notwendig, aber nach den
stürmischen Erschütterungen, nach den geistigen Er-
regungen, die ihr Erkennen Euch verursacht, muß
man unschuldig die Natur kopieren."

Am wichtigsten sind die Stellen des Buches, in
denen Gasquet die Äußerungen Cezannes über seine
eigene Kunst wiedergibt. Sie sind nicht nur in
einer überraschenden Weise aufschlußreich für das
Schaffen des Meisters selbst, sondern sie gehören
zugleich zum Wesentlichsten, was überhaupt in
Worten über Kunst ausgesagt worden ist. Ein
paar Sätze charakterisieren die Haltung des Spre-
chenden: „Er öffnet die Hände; spreizt seine zehn
Finger auseinander, nähert sie einander ganz lang-
sam, faltet sie, preßt sie, verkrallt sie, daß die eine
in die andere eingreift."

Dann heißt es: „Das muß man erreichen ...
Komme ich zu hoch oder zu tief, ist alles ver-
loren. In dem ganzen Gewebe darf nicht eine
Masche locker sein, nicht ein Loch, durch das die
Empfindung, das Licht, die Wahrheit entschlüpft.
Wissen Sie, ich packe mein Bild von vornherein
als eine Einheit an. Ich fasse mit dem gleichen
Feuer, mit derselben Uberzeugung alles zusammen,
was vereinzelt dasteht... Alles, was wir sehen, zer-
teilt sich, löst sich auf. Die Natur bleibt immer
die gleiche, aber nichts von alledem, das für uns
in die Erscheinung tritt, ist bleibend. Unserer
Kunst nun liegt es ob, den Schauer ihrer Ewig-
keit mit den Elementen, mit der Erscheinung all
ihrer wechselnden Zustände zu geben. Sie muß
uns ihre Ewigkeit ahnen lassen. Was ist hinter
ihr? Nichts vielleicht. Vielleicht alles. Alles! Ver-
stehen Sie? — Da erwische ich dann rechts, links,
hier, dort, überall ihre Töne, ihre Farben, ihre
Nuancen, ich setze sie hin, bringe eins neben das
andere, es bilden sich Linien und aus ihnen wer-
den Gegenstände, Felsen, Bäume, ohne daß ich
daran denke. Sie werden Masse. Sie werden Werte.
Wenn diese Massen, wenn diese Werte auf mei-
ner Leinwand, in meiner Empfindung den Plänen,
den Flecken entsprechen, die ich vor mir sehe,
dann ist mein Bild geglückt — es wackelt nicht,
es geht nicht zu hoch und nicht zu tief. Es ist
wahr, es ist fest, es ist voll. Sowie ich aber die
leiseste Zerstreutheit, das leiseste Versagen habe,
vor allem, wenn ich eines Tages zu stark über-

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