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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 17.1906

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Uhde-Bernays, Hermann: Der zweite Band der "Sixtinischen Kapelle", [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.5902#0130

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243

Der zweite Band der

»Sixtinischen Kapelle«

244

Werkes, welche den Menschen als dekoratives Element
der Deckenmalerei behandeln, einen günstigen, wenn
auch nur gelegentlichen Einfluß gehabt. Es wäre ja
bedauerlich und bei der sorgsam und mit feinem
Empfinden durchdachten Anlage des Werkes fast un-
verständlich, wenn nicht auch der Eigenart des Künstlers
Michelangelo in bezug auf Technik und Komposition
gebührend Rechnung getragen würde. Freilich muß
gerade dieser Teil, so manches Neue er auch bringt,
und so verständnisvoll auch die Erklärungsmethode
durchgeführt worden ist, als der schwächste bezeichnet
werden. Offenbar liegt es Steinmann nicht, diese
technischen Fragen, die vornehmlich einem auf das
rein Künstlerische ausgehenden Leser am Herzen
liegen, ausführlich und gesondert zu betrachten. Ist
es die oben mitgeteilte etwas vorurteilsvolle Stellung-
nahme, die es verhindert, ist es eine allzu große,
künstlerisch-technische Dinge mit vorgeblicher Un-
zuständigkeit ablehnende Bescheidenheit — denn von
dem Vorhandensein künstlerischen Sehvermögens zeugen
eine Reihe schöner Stellen — jedenfalls bleibt hier
eine Lücke, welche durch die Betrachtungen Justis
und Wölfflins hinwiederum, freilich nur teilweise, er-
gänzt wird. Steinmanns eigentümliche Begabung ist,
wie er selbst eingesehen hat, streng wissenschaftlich.
Sie wird in der zusammenfassenden Verarbeitung des
gesamten Materials, was die historische, in der durch
theologische Kenntnisse vertieften inhaltlichen Erklärung,
was die künstlerische Seite der Aufgabe betrifft, den
höchsten Anforderungen gerecht.

Schon aus historischen Gründen zerfällt das Werk
in zwei Abschnitte, einen größeren ersten, welcher
der Arbeit in derSixtina unter Julius II., einen kleineren
zweiten, der ihrer endgültigen Vollendung nach jahr-
zehntelanger Pause unter Paul III. gewidmet ist.
Nach Steinmanns Programm kommt Michelangelo
selbst immer erst nach der genauesten Charakterisierung
der ganzen Umgebung auf die Bühne. Seine Tätig-
keit erscheint erst wie der Abschluß eines gewaltigen,
auf mächtigem Fundament breit und massig aufge-
führten Gebäudes, wie der Abschluß, der den Unter-
bau verherrlicht, um in Gegenwirkung durch den
Unterbau selbst zu höherem Glänze erhoben zu werden.
Über hundert Seiten gelten daher der Schilderung
des gewaltigen Kämpfers auf dem Stuhle Petri, der
den Meister nach Rom berief, Julius II. Rovere, seinem
Hof, seinen künstlerischen Neigungen, die er, als
Baumeister vor allem, zu verwirklichen strebte1). So

1) Steinmann geht hier weniger auf Klaczkos Julius II.
zurück, sondern benutzt vorwiegend gleichzeitige Quellen,
die Berichte, welche die venezianischen Gesandten ab-
schickten, dann Ouicciardini und von kleineren Arbeiten
häufig zur Ergänzung Albertini und de Qrassis. Die mehr-
fache Anführung von Oregorovius mag in streng historischen
Kreisen verdrießen, aber gerade die erste Hälfte des Seicento
wird von Reumont recht dürftig abgehandelt. Selbst eine
Zuhilfenahme französischer neuerer Geschichtsschreiber,
von denen Perrens gelegentlich feine Bemerkungen aus-
spricht (Steinmann meidet diese großen Kompendien mit
Recht gänzlich) ließe sich hier vertreten. Pastors Geschichte
der Päpste wird die Würdigung häufiger Verwendung ge-
währt.

entstehen in bunter, aber wohlgegliederter Reihenfolge
prächtig gezeichnete, getreue Bilder jener glänzenden
Jahre, in denen zum letztenmal dem Statthalter Christi
auf Erden weltliche Macht und geistige Kraft seinem
gebietenden Wort Untertan zu machen in beispiellos
glücklicher Weise gelang. Die kräftige Universalität
jener erlesenen Menschen hat Steinmann so erkannt,
wie sie Stendhal und Taine und auf ihren Spuren
Jakob Burckhardterkannten, jenes geniale Übermenschen-
tum, das bei seinem frohen Vollbringen wie bei seinem
sinnenfreudigen Genießen gleich begünstigt und gleich
sympathisch die höchsten Ziele einer Kultur, wie sie
vorher ähnlich nur das göttliche Zeitalter des Perikles
gekannt hatte, anzustreben die innerliche Kraft besaß.
Den finsteren Gestalten eines Alidosi und Bramante,
dem freundlichen Giuliano da San Gallo, Baldassare
Peruzzi und Raffael, dem Schöpfer der Stanze della
segnatura und d'Elidoro, werden ihrer Bedeutung ge-
mäß einzeln betrachtet. Nun erst wendet Steinmann
sich Michelangelo zu, von der Gesamtheit übergehend
zu dem Manne, der abgesondert von ihnen allen
dennoch ihnen anhing mit einer »amitie funeste«, der
sein Leben verzehrte wie unter dem Fluche des skep-
tischen Dichterwortes »Leben heißt tief einsam sein«,
bis er in der Liebe zu Tommaso di Cavalieri, in der
Verehrung Vittoria Colonnas ein von dem Ruhm seiner
Werke glorreich umleuchtetes freundliches Alter fand.
Wieder sind es historische Tatsachen, die zuerst zur
Mitteilung gelangen. Der dritte Abschnitt des ersten
Teiles legt das persönliche Verhältnis Julius' II. zu
Michelangelo auseinander, berichtet in genauer Dar-
stellung die Tragödie des Juliusdenkmals, das Zer-
würfnis, die Flucht und die endliche Versöhnung in
Bologna, um dann die Entstehungsgeschichte der Decken-
malerei von den Anfängen bis zur Enthüllung der
Fresken zu erzählen. Es folgt der Plan des Werkes,
dann eine gründliche Kritik der Quellen Vasari und
Condivi, und abschließend ein höchst instruktives
Kapitel über die Entstehungsperioden1). Mit allem,
was äußerlich mit dem Werke zu tun hat, nunmehr
so vertraut, daß einem kritischen Nachzügler »zu tun
fast nichts mehr übrig bleibt«, treten wir dem Künstler
selbst gegenüber durch die Pforte seiner Beziehungen
zur Antike. Hier hatten schon Strzygowski und
Wickhoff vorgearbeitet, daß meist früher Gesagtes
wiederholt zu werden brauchte2). Bei der Einzelbe-
schreibung, die mit den Atlanten beginnt, gibt Stein-

1) Gerade hier, wo sich Steinmann mit Wölfflin so
nahe berührt, welch letzterer zuerst die Stilwandlung an
der Decke richtig erkannt hat, zeigt er die leider im all-
gemeinen zu sehr zurückgedrängte Fähigkeit des Sehens.
Der Zuweisung des Namens »Atlanten« für die Sklaven oder
ignudi wird man freudig zustimmen. Wichtig sind auch
die hier in den Anmerkungen gemachten Angaben über
die Zeiten, die Michelangelo zum Ausführen der einzelnen
Figuren brauchte, Angaben, die auf der aus nächster Nähe
gemachten Untersuchung der Maueransätze beruhen.

2) Dem Ausspruch, daß sich Michelangelo früh von
antiken Formbildern freigemacht habe, vermag ich mich
nicht anzuschließen. Weist doch Steinmann selbst einige
Seiten später (S. 251) auf die Bedeutung des Herkulestorso
auf die Kunst Michelangelos hin.
 
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