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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 17.1906

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Schmidt, Karl Eugen: Der Pariser Herbstsalon
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https://doi.org/10.11588/diglit.5902#0033

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KUNSTCHRONIK

WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE

Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Querstraße 13

Neue Folge. XVII. Jahrgang

1905/1906

Nr. 4. 3- November

Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur »Zeitschrift für bildende Kunst. ^^'^m^ Z^ lblnn^ien der »Zeitschrift für bildende
rnonaten Juli bis September monatlich einmal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfaßt ,33 Nu"™e™-»' %{^Zndt werden, leisten Redaktion und
Kunst, erhalten die Kunstchronik kostenfrei. - Für Zeichnungen, Manuskripte usw., die unv"'a"g'LS Querstraße ,3. Anzeigen 30 Pf. für
Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E. A. b = ema"n' ,LS,& Vogler, Rud. Mosse usw. an.
die dreispaltige Petitzeile, nehmen außer der Verlagshandlung die Annonce»exped^n«ijfonJ1aaseji^ ____

DER PARISER HERBSTSALON.

Der Herbstsalon scheint eine verdienstliche Aufgabe
übernommen zu haben: offenbar will er die aller-
modernsten Übermaler ad absurdum führen. Das
tut er, indem er alle Ausgeburten gespreizten Nichts-
könnens und maßlosester Sensationswut aufnimmt und
möglichst gut zur Ausstellung bringt. Die beiden
alten Salons werden von strengen Wächtern gehütet,
die nichts über die Schwelle lassen, was ihnen nicht
in den Kopf geht. Darob werden sie billig gescholten,
denn infolgedessen geht es da oft gar langweilig her.
Das ist natürlich: wenn ich mich bemühe, meine Sätze
so zu bauen und so aneinander zu hängen, wie es
geschehen ist, seit es eine deutsche Literatur gibt, dann
muß ich inhaltlich neu und stark Auf-

merksamkeit zu

sein, um die Auf

------- erregen. Aber inhaltlich neu und

stark sind die wenigsten von uns. Da ich nun aber
durchaus die Aufmerksamkeit erregen will, und da
ich dies mit dem Inhalte nicht kann, tue ich es mit
der Form, baue Verse ohne Rhythmus und ohne Reim,
reiße meine Sätze in der Mitte entzwei, lasse sie un-
vollendet, ergänze ganze Zeilen und Seiten durch
Gedankenstriche, kurz, benehme mich wie ein Narr
Da kann es nicht fehlen, man wird aufmerksam auf
mich und es werden sich immer noch Narren finden,
die sich von meiner Narrheit imponieren lassen, mag
diese Narrheit noch so handgreiflich toll und blöde sein.

In der bildenden Kunst ist das noch viel leichter
als in der Literatur, denn da wir alle lesen und schreiben
können, lassen wir uns da nicht ganz so leicht blauen
Dunst vormachen. Da wir aber nicht alle zeichnen,
malen, modellieren können, hat es ein Maler oder
Bildhauer

gar nicht sehr schwer, uns seine Tollheit
... ^eni? v°rzutanzen. Es fällt ihm um so leichter,
„, Künstler, deren Genie keinen Zweifel zu-

iam, das Beispiel geben und lächerliche Augenblicks-
wasen, die ihren Beruf verfehlt haben und statt auf
dem unteren natürlicheren Wege abzugehen, in das
-f"1™ gest'egen sind, marktschreierisch für große
geniale Meisterwerke erklären und erklären lassen,
wo alles, was zur modernen Kritik gehört, aus reiner
ri ™.' ,aus dem Fahrwasser zu kommen und für
ucißtandig gehalten zu werden, vor den Zeichnungen
losen c'nu kstase gerat und d'ese halt- und form-
wäre u fÜr g°ltliche Heldentaten erklärt, da
> sehr verwunderlich, wenn Rodin nicht mit

diesen Dingern, deren er in einer Stunde nach eigenem
Geständnis zwanzig und dreißig fabriziert, auf den
Ausstellungen erschiene, und sie, wie sie da sind, in
klingende Münze umsetzte. Und noch verwunderlicher
wäre es, wenn dieses Beispiel nicht auf die jungen
Leute wirkte. Was zum Henker soll ich mich schinden
und plagen, Studien malen, Modelle zeichnen, die
ganze lange Lehrzeit mühsam und fleißig durchmachen,
wenn ich mit mühelos hingeknalltem Geschmier, das
weder gezeichnet noch gemalt ist, woran weder Licht,
noch Luft, noch Form, noch Farbe existieren, wenn
ich mit so einer Sudelei mehr Erfolg habe als mit
einer fleißigen Arbeit, die mich Tage, Wochen, Monate
rastloser Mühen gekostet hat?

Und man entdeckte, daß das köstlichste in der
Kunst die Naivetät ist. Wer in seinen Arbeiten zeigt,
daß er etwas gelernt hat, daß er denkt, berechnet,
komponiert, kurz künstlerische Absichten hat, ist
ein trauriges Tierlein, das Genie hat nichts gelernt
und kann doch alles. Und wie es Deutsche gibt,
die den Unterschied zwischen kindlich und kindisch
nicht kennen, so verwechselt man hier die köstliche
Naivetät Dürers und Memlings, Richters und Böcklins
mit der gesuchten, beabsichtigten, künstlich gemachten
Naivetät der Maurice Denis, Henri Matisse, Vuillard
und wie sie alle heißen. Einige aber sind wirklich
naiv, wissen wirklich ganz und gar nichts von der
Kunst, haben nie gelernt, wie man zeichnet und malt,
sind einfach kindisch, arbeiten ganz genau so, wie
die Schuljungen auf den weißen Blättern ihrer Bücher
und auf der schwarzen Tafel, wenn der Lehrer den

Rücken dreht.

Diese ganz wenigen, die wirklich malen wie kleine
Kinder, weil sie es nicht anders können, bilden freilich
die Ausnahme, und aus diesem Grunde verdienen
sie besondere Wertschätzung. Also hat man dem
großen Gemälde des Herrn Henri Rousseau den
Ehrenplatz im Herbstsalon gegeben. Ich wollte, dieses
Bild könnte ich beschreiben, aber das ist nicht mög-
lich. Es ist ein tropischer Wald, und zuerst sieht
man nichts als Blätter. Die Blätter sind alle flach
und breit, wie man sie in den Herbarien trocknet:
so sind sie leichter zu zeichnen als wenn man sie
von der Seite sieht. In dem Blätterdickicht steht ein
sagenhaftes Geschöpf mit blutigem Rücken, aus seinem
Auge rinnt eine Träne, und in den Rücken eingebissen
ist ein fürchterliches Tierhaupt, das einem unbekannten
 
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