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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 2.1888-1889

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Heft 4
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11724#0059

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von Runstliteraten, die wagners Sache Tag und
Nacht beleuchten, erläutern, beschreiben, in Beziehung
zu allem Möglichen bringen, und dabei sich selbst als
Vorkämpfer und Nerteidiger gebärden.

wirklichen Vorteil davon hat nur wagners Sache:
die Kunst im Großen leidet unter diesem Nieder-
stürzen, unter dieser Anbctung ganzer Aullionen vor
einem einzelnen Rünstler, dessen Ligenart auf längere
Zeit zum »Maß aller Dinge« gemacht wird. Für den
wert einer Sache beweist die Zustimmung von
Nkillionen eben Nichts; erst müßte der wert dieser
Millionen erwiesen sein. wer aber wollte den fest-
stellen? Nach welchem Ranon sollte dies geschehen?
wer stände so hoch über Zeiten und völkern, um zu
erkennen, welche Symptome sie im Range hoch oder
niedrig stellen? Nnd setzt auch dieses Lrkennen nicht
immer wieder eine Richtschnur voraus, die wir ent-
weder willkürlich ansetzen oder unbewußt, instinktiv in !
uns tragen? Muß man nicht gleichsam ein zweites
Bewußtsein haben, um sich und seine Zeit in allen
Lebensäußerungen, selbst den bewußtesten (in Geschinack,
Urteil, Rioral), unter sich und in vergleichung zu
aller Vergangenheit des Rienschengeschlechts zu sehen?

wer uns diese Fragen nahe bringt und sie in
einer Weise löst, wie sonst Niemand es vermöchte,
ist Friedrich Nietzsche. Lrst mit ihm beginnt
eine wirkliche physiologische Linsicht in die Lrscheinungen
der Geschichte; erst ihm wird man die Gewinnung
von wertmefsern verdanken, nach welcher die Be-
urteilung historischer Lrscheinungen aus der »Zdiosyn-
krasie« und Tnge einer Zeit und Generation heraus
nur noch dem vulgärmenschen erlaubt ist. Nietzsche's
füngst erschienene Schrift ,Der Fall wagner^ ist
eine Txemplifikation seiner historischen Betrachtungsart.

Don Nietzsche stammt das ohne Frage tiefste und
bedeutendste apologetische werk der Wagner-Literatur,
ich meine ,die Geburt der Tragödie aus dem Geiste
der Riusik', jenes Bnch, mit dem plötzlich ganz neue
ästhetische Werte, eine ganz neue Glorienfarbe, ganz
neue jDerspektiven um wagner herum geschaffen waren
und von welchem wagner selbst, wie sein schrift-
stellernder Anhang, reichlich zehrte. Als Apologet
wagners wurde denn Nietzsche auch allgemeiner be-
kannt. wer aber und was Nietzsche außerdem und
eigentlich ist, das wissen im einmütigen Deutschland
nicht zehn Rbenschen. Rlan muß in's Ausland gehen,
um es zu erfahren, z. B. nach ^avoyen zum größten
jetzt lebenden kchstoriker Taine, oder nach Ropenhagen
zu Georg Brandes (jedenfalls einem der intelligentesten
Rritiker unserer Zeit), der letzten winter vorlesungen
über Nietzsches j?hilosophie vor mehr als 300 Stu-
denten hielt und damit den Namen wie die probleme
Nietzsches in ganz Skandinavien bekannt gemacht hat.

Nietzsche ist eine in unserer Zeit fast unmöglich
scheinende Rultur für sich — von einem Trnst,
einer Ursprünglichkeit, einer Rraft und Lsöhe des
Geistes und Lmpfindens, vor der den meisten Rkenschen
schaudern wird. Rttt ihm hat sich eine neue Sphinx ^
vor das Leben hingelagert. Alle menschlichen Dinge
sind in Frage gestellt; nicht in der Art der bisherigen,
spielerischen Freigeister, auch nicht von Unten her in
der Art der Rkalkontenten, der politischen oder reli- ^
giösen Sozialisten, — sondern aus den Gesichtspunkten
der höchsten Lxemplare der Rienschheit heraus. ^

Brandes charakterisirte die Philosophie Nietzsches u. A.
mit dem Ausdruck ,aristokratischer Radikalismuss und
gewiß würden, wenn die Brahmanen oder Alexander,
Läsar, Napoleon, oder Leonardo da vinci und Ähn-
liche ihre leitenden Znstinkte in worte und Formeln
gebracht hätten, sie im Ganzen mit den Zmperativen
in Nietzsche übereinstimmen. Nur ist zu bezweifeln,
ob sie's vermocht hätten ... in der Art Nietzsches.
Lrst ihm scheint sich das Geheimnis des organischen
Lebens enthüllt zu haben. An seiner Linsicht ge-
messen nimmt sich alle bewußte Thätigkeit, selbst der
höchsten Rbenschen der Vergangenheit, immer noch
blind, instinktio aus. Vor ihm legen sich die Lrschei-
nungen in einer weise aus einander, er errät zuletzt
Hauptsachen, von denen bisher Niemand etwas sah
noch wußte. Und diese Hauptsachen gehen so sehr
gegen mttere übliche Lmpfindungs- und Abschätzungs-
art, gegen unsern Geschmack, unsre Gewohnheit, daß
schon ein ziemlicher Grad Unerschrockenheit dazu ge-
hört, ihm überhaupt nur zu folgen.

Nietzsche ist eine Uultur für sich. ^eine Schriften
sind das Gehaltreichste, Uondensirteste, was man lesen
kann. Zn jedem seiner Sätze steht ein Apper^ü, ein
Urteil, das nur ihm gehört, gehören darf. cheine
werke, namentlich das Buch aller Bücher »Also sprach
Zarathustra«, sollten der 5tolz der Deutschen sein, da
sie den Rang ihrer ganzen Literatur erhöhen: aber
in Deutschland weiß man Nichts davon, man ist nicht
vorbereitet dafür, man hat weder Verstand noch bserz
dazu. Zn s)aris würden Nietzsches Bücher eine Flut
von Artikeln und Broschüren nach sich ziehen, die ge-
samte französische Zntelligenz würde sich ihrer be-
mächtigen, philosophische Parteien würden sich bilden,
kurz, seine s?robleme kämen zu öffentlicher Diskussion.
Unter Deutschen, wie gesagt, weiß man mit seinen
j?roblemen nicht einmal etwas anzufangen, sie liegen
für sie noch zu viele Rieilen unter dem Boden, es
mangelt an der jahrhundertelangen moralistischen
Schulung, wie sie der in Betracht kommende Franzose
seit Riontaigne hat, es mangelt sogar am bloßen Zn-
teresse, an der Genußfähigkeit für psychologische
Finessen. Das Derhalten der Deutschen gegsn Nietzsche
wird ein neues Blatt zur Geschichte ihrer zunehmen-
den geistigen Znferiorität liefern.

Von Nietzsche's Gedankenwelt, auf dem uns ge-
gönnten Raum, eine umfassende vorstellung zu geben,
ist unmöglich; es hieße fast, seine zwölf Bände hier
abdrucken. Nietzsche ist, zum dritten Rial sei's gesagt,
eine Rultur (und eine Rioral — eine heroische)
für sich. Rian muß ihn selbst lesen, sich in ihn ver-
senken, ihn lebendig werden lassen, jahrelang mit ihm
leben. Zst man ihm seelisch verwandt, dann heißt
einem die Bekanntschaft mit ihm so viel, und eine
Rleinigkeit mehr, als der Lintritt Beatricens in das
Leben Daute's: incipit vita novu. —

was wir hier einzig, und zwar als Uberleitung
zu dem Folgenden, aus Nietzsche herausheben wollen,
ist eine biologische chauptlehre.

Unsere Rkoral (d. h. vornehmlich unsere mitleidigen,
nachgiebigen, egalisirenden, demokratischen, aller Ge-
walt, allem Gewaltthätigen feindlichen Neigungen)
— unsere Rkoral ist ihm nichts j)rimäres, Leitendes
(oder gar wetaphysisches nach Art der deutschen
s?hilosophen bis zu Schopenhauer); sie gilt ihm nur
 
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