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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 2.1888-1889

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Heft 8
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11724#0123

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spielkunst bei der Heranbildung nener Rräste den
rhetorischen Teil der Runst betrieben, nicht so sehr
durch den äußeren Nmstand geleitet, daß die Kunst
der Rede aus die größere Menge leichter Lindruck
machh als dadurch, daß ihnen selbst die Linsicht in
die Gesetze der Gebärdensprache fehlte. ll)as große
Rünstler in dieser Beziehung Lservorragendes leisteten,
leisteten sie instinktiv, ohne den tieferen Grund zu
kennen, wohl auch gar ohue zu wissen, welche Grgane
in fedem einzelnen Falle thätig sind.

Aus dieser Unkenntuis der äußeren AAttel und
der Gesetze, nach welchen man sich ihrer zu be-
dieneu hat, entspringt so häustg der Widerstreit
zwischeu Rede und Bewegung. Nicht bloß, daß der
Gestus häustg mit dem ^öhepunkt der Nede nicht zu- ,
sammenfällt, daß also der Gestus seine eigene Wirkung,
der Akzent seine eigene ansübt, und daß sich der
Aünstler auf diese Weise um den mächtigen Tindruck
briugt, deu das Zusammeufallen einer bedeutenden
Gebärde mit der gewichtigsten Betonung hervorrufen
müßte — es kommt sogar häufig genug vor, daß
die Gebärde vollkommen mit dem Wort, also auch
mit dem chiune der Nede und dem Inhalt der L>itu-
ation in kViderspruch steht. Wir haben kürzlich auf
einer der ersten Bsrliner Bühnen einen Aünstler ersten
Ranges — es ist dies nicht bloß unser Urteil, sondern
das allgemeine — in dieser Beziehung außerordentlich
fehlen sehen. Der jüngere Bruder Aonrad steht dem
älteren Dietrich gegenüber — der L!eser errät, daß wir
von Mildenbruchs Guitzows sprechen. „Bei Gott, ich
glaube, dieser Anabe droht mir!" sagt Dietrich von
Guitzow, und Aonrad antwortet ihm — wie der
Dichter in Alammer sagt „furchtbar" —: „Nicht
Anabe inehr, du hast deu Akann geweckt!" Diese
Morte sprach der Darsteller in der höchsten
Tonlage und mit einer Lebhaftigkeit, ja beinahe
Zappligkeit, die in der That recht knabenhaft war
— eine Gebärde, die im vollsten Widerspruch zu dem
stand, was ausgedrückt werden sollte. Denn Nonrad
ist wirklich an Zahren sowohl wie in seinem Fülsten
und Denken ein Alann geworden, und er steht seinem
Bruder mit dem vollen Bewußtsein seines IVertes
gegenüber. Tin Lehlsr, wie der erwähnte, hat seinen
Grund unzweifelhaft in der Unkenntnis der körper-
lichen Beredsamkeit, wie sich Lessing ausdrückt, oder
um mit Aarl ANchel zu sprechen, der Gebärdensprache.
Attchel führt in seiner chchrist: „Lessing und die
heutigen Schauspieler" (^amburg, Verlagsanstalt, vorm.
Z. L. Nichter) eine ganze Neihe von Thatsachen an,
die mit der oben erwähnten nahe verwandt sind,
und zieht daraus den Schluß, daß die chchauspielkunst
darum in den letzten Zahrzehnten keine Lortschritte
gemacht habe, weil sie nur im geriugsten Niaße eine
Überlieferung kenne. Solange wir nicht im chtande
sind, die nach bestimmten Gesetzen geschaffenen Ceistungen
großer Nünstler in Beschreibungen festzuhalten und
nachzuahmen, gingen diese für das kommende
Geschlecht so gut wie verloren.

Narl Nttchel, der aus der Trforschung der Ge-
bärdensprache eine Lebensarbeit gemacht hat, unter-
schätzt vielleicht ein wenig die Bedeutung einer aus-
drucksvollen Nede; aber darin hat er Necht, daß die
heutigen Schauspieler nur zum allergeringsten Teil den
Mert der Gebärdensprache erkannt haben.

Unter Gebärdensprache oder körperlicher Bered-
samkeit verstehen wir den ganz beftimmten Ausdruck
bestimmter Tmpfindungen durch Grgaue des mensch-
lichen Rörpers. Wit Necht wird an Trnesto Nossi
und dem Amerikaner Ldwin Booth die vollkommene
Übereinstimmung zwischen Situation und Gebärde ge-
rühmt. „Seine Züge", urteilt Rarl Lrenzel über
Nossi, „seine Bewegungen sprechen wunderbar, scharf
und bestimmt schließen sie sich den worten an, ja,
eilen ihnen voraus und sind der lebendigste, unmittel-
barste Ausdruck seiuer Stimmungeu, seiner Lmpsind-
ungen. Diese Bewegungen sind nicht immer edel,
aber schnell und lebendig; das Gesicht verzieht sich
zuweilen zum Häßlichen, aber es bleibt ausdrucksvoll
uud bewegt. Dagegen scheinen denn freilich die
deutschen Schauspieler, als hätten sie Nwsken vor dem
Antlitz". Dies chchlußurteil dünkt uns ein wenig zu
streng; Lrenzel kann doch unmöglich den Schauspieler
vou durchschnittlicher Befähigung mit einem Nünstler
von so seltenen Naturgaben wie Nossi vergleichen,
und spricht er von eüngermaßen Gleichbefähigten,
dann dürfte sein Nrteil doch in solcher chchroffheit
nicht zutreffend sein. Nun gehört Nossi allerdings
einer Nation an, die sich von Natur der Nörper-
sprache häusiger bedient als der Deutsche, uud es
mag bei ihm nebeu der Lrucht eines ernsten ^tudiums
auch das Trgebnis angeborner Voraussetzungen sein.
Booth, dessen stummes chpiel, um ein hergebrachtes
wort zu gebrauchen, in gleichem Grade die Bewun-
derung in Deutschland erregt hat, gehört dagegen
dem germanischen L>tamme an, besitzt also nicht den
Vorteil der. angebornen körperlichen Beredsamkeit.
Bei ihm ist ein großes darstelle.risches Talent durch
ein eifriges chtudium uud durch eiue volleudete Technik
— die Lolge regelmäßiger, systematischer Übung —
bis zur höchsteu Sreistungsfähigkeit gesteigert.

Und diese systematische Übung verlangt Nttchel
mit Necht von Zedem, der den Beruf des Schau-
spielers ergreift. Die erste Voraussetzung für die
Beherrschung der schauspielerischen Technik ist die
Nenntnis der cheelenzustände und die Leststellung der
NAttel, durch welche sich die verschiedenen Stimm-
ungen äußern. Tine zweite ist die beständige
Übung der Grgane. wir wollen an einem allge-
mein bekannten Leispiel erläutern, worum es sich
handelt. wir sprechen von dem Anschwellen der
Zornesader auf der chtiru. Zeder N'leusch erkennt
auf den ersten Blick, daß ein Anderer zornig ist: an
dem glänzenden Auge, an dem cheroortreten der soge-
nannten Zornesader. wenn nun ein chchauspieler
die Aufgabe hat, den Zorn darzuftellen, so muß er
die körperlicheu Nttttel so uubedingt in seiner Gewalt
haben, daß der Zorn in seinen Zügen in demselben
N'loment kenntlich wird, in dem er es für seine Ab-
sicht braucht. Das läßt sich nicht, wenigstens nicht
jederzeit durch den bloßen schanspielerischen Znstinkt er-
reichen. Nur wer sich in der Darstellung dieser
Stimmung geübt hat, wird jederzeit ü^rr über
seinen Rörper sein. Bei mangelnder Stimmung wird
es selbst der begabte Schausxieler nur daun in der
bjand haben, ^eelenzustände vollkommen in seiner
Zügen und in seinem Rörper auszuprägen, wenn er
überhaupt im vollen Besitze seiner Nttttel ist, also nur
die verhältnismäßig kurze Zeit seiues Lebens, in welcher


ls

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