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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 2.1888-1889

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Heft 11
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Sprechsaal
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https://doi.org/10.11588/diglit.11724#0177

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> fassung die ersten zwei Takte des Allegro ohne jede
Regung, ohne merkliches Anschwellen und Ab-
schwellen, ohne irgend eine Note heroortreten zu lassen,
leicht, glatt nnd sließend, äußerst gebunden, gespielt
werden. Aber siehe da, gleich nach der zweiten Note
in der oberen Stimme steht so ein fatales Lesezeichen,
welches schon sürs Musikerauge jene künstlerische ver-
schmelzung der Töne zerreißt. So geht es in der
j)raxis nicht. <Lin Anderes ist's, wenn im theo-
retischen (spekulativen) Interesse eimnal ein solches
Aiusikstück analysirt werden soll, — dann sind solche
Ausgaben mit Lesezeichen zu gebrauchen. Mr die
jDraxis dagegen erweisen sie sich nicht nur als un-
nötig, sondern als hemmend und störend. was würde
man sagen, wenn Iemand auf den Tinfall käme, die
Akkorde eines Musikstückes durch Buchstaben und
Zahlen über den Noten in der Notenschrist anzu-
geben, etwa in dieser weise:

c, r', (^, e,

676

5

usw.? Ist denn aber die Anwendung der Lesezeichen
in der Notenschrist etwas wesentlich Anderes?

Nach dem Bisherigen wird es nicht wunder
nehmen, wenn ich behaupte, mit den Znterpunktions-
zeichen der Bücherschrist bei der j)hrasirung in der
j)raxis auszukommen. Der Linwand des Lserrn Nie-
mann, die verwendung der Znterpunktionszeichen ver-
leite zu unsruchtbaren Deuteleien und Assoziationen,
scheint mir unbedenklich. Zunächst käme es blos da-
raus an, einmal die Analogie zwischen der gramma-
tikalischen und musikalischen Satzlehre sestzustellen.

Z. B. (Musikalische Satzlehre.) (Grainmatische Satzlehre.)

Die Note — das wort.

Die Figur — die Satzverbindung.

Das Motiv — der chatzteil.

Die Phrase — Glied der Periode,

(ksauptteile, sowie uuter- und beigeorduete Teile des Dorder-
oder Nachsatzes.)

Dordersatz — bsebung der j)eriode.

Nachsatz — 5enkung der s>eriode.

Periode — Periode.

Die Lsauptteile, sowie die unter- und beigeordneten
Teile, in der Nlusik also die mehr oder minder
kurzen und langen j)hrasen, werden durchs
Aomma getrennt. Der Dorder- und Nachsatz einer
j?eriode dagegen werden durch das Semikolon ge-
schieden, wenn nicht durch das Aolon eine außer-
ordentliche ^ervorhebung des Nachsatzes bewirkt
werden soll. Lo lassen sich nach meinem Dasürhalten
die Znterpunktionszeichen der Bücherschrift sehr zweck-
mäßig in der Musik zur Anweudung bringen. kherr
Niemann dagegen will die größeren Aonturen des
rhxthmischen Aufbaues sehr einsach und direkt ver-
ständlich mit Zahlen unterm Taktstrich kenntlich machen.
Das ist nun ganz ohne Zweisel für die rh'xthmische
Theorie und theoretische Formenlehre ganz vorzüg-
lich. Denn die Musik als eine rein zeitliche Runst
findet schließlich in der Zahl ihren besten Nkaßstab.
Für die j?raxis dagegen scheint es bedenklich, durch
Zahlen die Lenkungen und Lsebungen, das Aus und
Ab der j?hrasen und Lätze zu kennzeichnen, denn
diese vermögen uicht direkt aus die Betonung zu
wirken, sondern erst dann, wenn man sich klar ge-
macht hat, welche Stellung ein betreffender Takt in
der j)eriode einnimmt. Nur hierüber unrerrichtet die
Zahl. Das ist aber ein viel zu langer weg. Zm



Neiche des Rönnens gilt nicht die Neslexion, sondern
die direkte Übertragung des sensiblen Nerven aus den
motorischen Apparat, der Lmpfindung auf die Be-
weguug, der Anschauung aus die ^andlung. Des-
wegen aber werden wir an unseren anschaulichen
Znterpunktionszeichen sesthalten.

Übersehen wir nicht, daß diese nicht blos tote
grammatikalische Merkmale sind, sondern auch
kennzeichnende sür die Melodie der Nede. Als
solche wollen wir sie vorzugsweise sür die Nlusik
verwendet wissen! Lassen wir alle Analogien mit der
Sprach-Grammatik bei Seite und betrachten wir die
Nlusik in ihrer j)eriodizität, so stellt sich uns dieselbe
in mannigfach bewegten Nhythmen dar. Zmmer ist's
ein Ansangen, ein Anheben, das im zweiten Glied
zur Nollendung oder Nuhe gelangt. So kommt in
die Musik bsebung und Lenkung, Spannung und Lä-
suug, Lntzweiung und versöhnung, Lrwartung und
Besriedigung. Nach der Lsebung und Senkung sällt
aber je ein Romma; nach der Lpannung ein Semi-
kolon oder, wenn sie groß ist, ein Rolon. Lin Lemi-
kolon bezeichnet die Lösung, wenn sie unvollkommen,
ein j?unkt dagegen, wenn sie vorübergehend ist; ein
j?uukt mit Gedankenstrich aber kennzeichnet sie, wenn
sie als endgültig erscheint usw., usw.

Diese Znterpunktionszeichen will ich aber gar nicht
gedruckt, sondern vom Dirigenten, vom Lehrer und
unter Umständen vom Schüler selbst eingezeichnet sehen.

warum, das wird aus Folgendem klar werden.

Ls kommt nicht blos darauf an, daß wir die j?hrasen
eines Niusikstückes klar absondern und heraushebeil,
sondern die Schönheit der j?hrasirung liegt in der
„Zndividualisirung" der j?hrasen. An jeder j)hrase
haben wir dreierlei zu unterscheiden: den allgemeinen,
den besonderen, den individuellen Tharakter. Zum
allgemeinen Tharaker gehört die Tigenschaft: Glied-
teil einer s)eriode zu sein. Der besondere Tharakter
dagegen wird gekennzeichnet durch die Ltellung der
jDhrase in der j?eriode, und endlich der individuelle
Tharakter ist die Ligenart einer schrase, die eben nur
ihr allein zukommt. Die eigenartige Betonung der
s)hrase aber ist es, was wir im künstlerischen vor-
trags sordern. Lie kann nicht durch Negeln gelehrt
werden, sondern nur die unmittelbare Darstellung
kann hier zu Lrsolg sühren. Ttwa so! Der Lchüler
spielt; der Lehrer unterbricht und der Schüler, welcher
die Finger gar nicht erst von der Tastatur oder die
violine vom Ninne nahm, setzt aufs neue ein. Um
nun das Flüssig-Flüchtige der individuellen Anschau-
ung gewissermaßen zu bannen und zu begrenzen,
wirft der Lehrer ein Znterpunktionszeichen nach dem
andern auss j?apier, was aber nicht durch Berech-
nung, sondern nach unmittelbarer Tmpfindung ge-
schehen soll. Don hohem wert hierbei sind die ne-
gativen Bestimmungen. Gesetzt, ein Schüler spielt die
oben erwähnte Nlozartsche Sonate in seinen ersten
zwei Takten so, daß er das Lesezeichen wirklich markirt.

Da hätte der Lehrer zu rusen indem er spielt: hier
kein Romma, erst da! —

Die Znterpunktionszeichen sollen also nicht in die
Notenschrist gestellt werden. Sie gehören zur un-
mittelbaren Darstellung. Doch bserr Niemann meint,
die s)hrasirungsbezeichnung in der Notenschrift ist
nötig, um der verderbnis im Unterricht Linhalt zu ,
 
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