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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 2.1888-1889

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Heft 19
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Spitteler, Carl: Die Chorszene zu Anfang der Oper
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https://doi.org/10.11588/diglit.11724#0295

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19. Stück.

Lrscbctnt

Derausgeber:

zferdinand Twenarius.

Kcstellpreis:
Vierteljährlich 2 r/z Mark.
Anzeigen: 3 gesp. Nonp.-Aetle -0 pf.

2. Zgbra

Dle Lkorszene zu

enn es auch gegenwärtig den Anschein
hat, als ob die geschlossene, abgeruildete
Szenenführung der Mper für immer der
vergangenheit angehöre, so halte ich doch
Betrachtungen über sie nicht für unfruchtbar, da die
Lrkenntnis niemals zu spät kommt und niemals ver-
altet. Indem ich hier nun über einen bestimmten
Teil der Gper alten Stils, nämlich über den Anfang
des ersten Aktes, unmittelbar nach Aufzug des vor-
hangs, meine Beobachtungen mitteile, beziehe ich die
letztern einfach aus der Lrfahrung, mit andern worten
aus dem naiven Lindruck; nicht dramaturgische Grund-
sätze, sondern die LVirksamkeit des Gebotenen dient
mir zum Blaßstab des Urteils.

Daß in dramatischer und theatralischer ^insicht
die alte Gper wegen ihrer Befangenheit in herge-
brachten Schablonen oder, billiger ausgedrückt, wegen
ihres Strebens nach künstlerischer Abrundung der
Ginzelszenen sich mitunter der gröbsten verstöße sowohl
gegen die lvahrscheinlichkeit als gegen die wirksam-
keit schuldig macht, ist schon bis zum Überdruß gesagt
und bewiesen worden. Zwar gewinnt öfter das mu-
sikalische Ohr mit Zinsen, was dem Auge und dem
verstand geraubt wird; ich vermag wenigstens die
große Arie, den thematisch verarbeiteten Zusammen-
gesang und vor Allem das Finale keineswegs für
überwunden, d. h. für ersetzt und übertroffen, zu halten.
An einer Stelle jedoch erleidet meines Erachtens der
ksörer bei dem frühern Gpernstil regelmäßig nur
ästhetische verluste, ohne Tausch und Grsatz, nämlich
am Beginn des Stückes.

was begehrt doch Leib und Seele zu Anfang
eines Tonakts? Gewiß eine ästhetische Neuigkeit, ein
schönes Lreignis, etwas das Leben habe und Leben
mitteile. Man ist gespannt, d. h. durch wohlwollende
Lrwartung aufgeregt, man ist in höchstem Grade auf-

Nnkaikg der Gper.

nahmsfähig, weil weitherzig und versöhnlich gestimmt
für Alles was da kommen möge, aber es muß etwas
kommen. Ungeschickter vermöchte ein Romponist seine
Schöpfung schwerlich einzuleiten, als indem er vcr
allem unsere Bereitwilligkeit totschlägt und seine größte
Wühe darauf verwendet, uns zu guter erst zu lang-
weilen. Zndessen gerade das wird in der Gper alten
Stils mit bewunderungswürdiger Michttreue angestrebt.
von der richtigen Ahnung ausgehend, daß eine ge-
füllte Bühne dem Auge zugleich als eine belebte er-
scheint, liebt die alte Gper, zunächst einen Thor auf
die Bretter zu stellen; auch hängt ja am Thor eine
urweltliche musik-historische Lseiligkeit, die ihre beste
Lrklärung wohl in philologischen Renaissancespeku-
lationen finden dürfte; wie dem übrigens sei, der
Thorgesang zur Tinleitung soll offenbar dem werk
Größe verleihen. Allein weder das Theater noch die
Nlusik zieht aus ihm die erhofften Vorteile. Trstens
nicht, weil der Thor nicht allein nicht handelt, sondern
sich sogar kaum bewegt; er bedeutet ja blos einen
Gesangverein, der sich zum s)hotographiren herausge-
putzt hat. Nach einigen symbolischen Bewegungeu
bei Aufzug des vorhangs wirft er alsbald das Lsand-
geräte bei ^eite, um uns, im ^albkreis aufgestellt, sein
Lied zum Besten zu geben. wäre dasselbe nun er-
freulich, so ginge das zum Übrigen; allein der Über-
wille des Romponisten verführt ihn an dieser Stelle
meistens zu pompösen Gemeinplätzen der Lsarmonie,
zu hohler Rlangfülle, am liebsten in T-Dur, ohne
echte Trfindung, weil ein Zrrtum obwaltet, als ent-
sprächen blos die geläufigsten und einfachsten Tonfolgen
der Feierlichkeit der Szene. Ts hat mich stets über-
rascht, wie frostig und steif der erste Lhor selbst bei
den besten Nleistern auszufallen pflegt; sogar ein Geist
aus lauter Feuer und Ouecksilber zusammengesetzt, wie
Auber, erscheint hier wie aus Blei gegossen und an


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