Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 2.1888-1889

DOI Heft:
Heft 21
DOI Artikel:
Rundschau
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.11724#0330

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Mit tiefer Wehmuth denken wir an ^amerlings
Grab. >Ls ruht ein Dichter darin, der nie irgend-
welcher Gunst wegen von dem N)ege wich, der ihm
der vechte schien. Lr sühlte sich als priester und
ward nie zum jchassen. Nein ^-täubchen vou
Literateutum klebte an der ganzen Gestalt. Menn
inan von Ginem sagen dars, daß er vornehm war,
so darf man's auch von b^amerling sagen.

LDusik.

* In einem Aufsatz „Der mustkaliscde vor-
tvllg" (Allg. Musik-Ztg. 2 3) weist k^ugo Niemaun
zunächst daraus hiir, daß der Aompouist, sehe inan
uon Zmprovisationen ab, wie der Dramatiker in der
üblen Lage sei, „sein Merk nicht selbst vollständig be-
endigen zu können." Denn der Dortrag sei erst der
eigentliche Abschluß des Schaffeusaktes. Lr ist „nicht
nur Ilbersetzung der Noten in Griffe, in Töne (wäre
er nichts weiter, so hätte allerdings der Romponist
doch sein Merk selbst beendet): er ist Lelebung der
Noten. Zeder Ton, der gespielt oder gesungen werden
soll, muß erst vorgestellt werden, ehe er gegeben
werden kann. Beim Gesang ist das an sich klar,
beim Znstrumentenspiel aber ist's nicht anders;
wenigstens ist der kein Ntusiker, der den Tou nicht
hört, ehe er ihn spielt! Darauf beruht auch für den
höher organisirten und gründlich geschulten Näusiker
die Ntöglichkeit des Genusses von Tonwerken durch
bloße Lektüre." Nieinann spricht nun von der wich-
tigkeit einer vollständig sichern Trsassung der Noten
durch den Dortrageuden, der Noten, bei deren Nieder-
schrist unendlich viel von dem Zauber des Tonbildes
sich verlieren könne, das doch nur für den, welcher
die Notenschrist vollkommen bis ins Rleinste ersaßt
habe, wiederbringlich sei. „Nur derjenige trägt ein
Tonwerk lebendig vor, dem es möglich geworden ist,
durch Vermittelung der Notirung in der eigenen ffchan-
tasie (einigermaaßen annähernd) dasselbe Tonbild le-
bendig zu machen, welches der Nomponist zu sixiren
strebte, der also damit den Millen des Romponisten
zum seinigen gemacht hat und in seinem Namen, an
seiner Stelle, dem Tmpsinden Ausdruck verleiht. Nur
der sich mit dem Nomponisten identisizirende Tonkünstler
reproduzirt wirklich; nur, indem er den s)rozeß der
Schaffung des Tonwerks wiederholt, vermag er, ihn
zu vollenden." . . . Die Freiheit des reproduzirenden
Rünstlers beginnt also erst da, wo der wille des
Nomponisten, alles in Zeichen zu ffxiren, scheitert. Den
gleichsam transzendenten Sinn der Niederschrist zu
enträtseln, ist aber seine schönste Ausgabe; erst wenn
er nicht mehr zweiselt, was der Nomponist ausdrüeken
wollte, wenn vielmehr alles innere Notwendigkeit ge-
wonnen hat, alles logisch sest zusammenhäugt, weun
er sich srei sühlt von den Fesseln der unzulänglichen
Niederschrist und eins im willen mit dem Nomponisten,
erst dann hat er die Notirung verstanden, erst danu
reproduzirt er: uicht aus den Noten durch die Finger,
sondern aus der eigenen Phantasie, aus dem eigenen
willen heraus! Mit Recht sträubt siel/ daher der
vortragende Aünstler gegen Dorschristen, welche ihm
eine solche Art des Nachschaffens unmöglich machen,
also z. B. minutiöse metronomische Bestimmungen für
die Lluktuationen der Temponahme, welä^e bei der
> Neprodnktion bewußt einhalten zu sollen eine uner-

trägliche Fessel sein müßte; umgekehrt wird ihm da-
gegen alles willkommen sein, was dazu beitragen
kann, aus der Niederschrist möglichst klar umriffen
die schantasiebilder erstehen zu lassen, welche der Nom-
ponist in die toten Zeichen bannen mußte; giebt man
zu, daß Nkotive, Gruppen, ^ätze, Themen die Tlemeute
dieser Bilder sind, so wird vor allem eine deutliche
Begrenzung dieser Glieder als Bedürfnis erscheinen.
wenn gewiß ein genial veranlagter Spieler beim
^tudium der Notirung, bei ihrer Rückoerwandlung in
vorstellungen, dieselben im allgemeinen sogleich richtig
erkennen wird, so kann doch andererseits unmöglich
bestritten werden, daß in vielen Fällen ein Rlißver-
stehen nicht ausgeschlossen ist; keiner aber wird in
solcher Zweideutigkeit eiuen Dorzug uud in ihrer Be-
seitigung einen Nachteil erblicken wollen. Die musi-
kalische Zuterpunktion, die AlarlegUng des Ausbaues
erleichtert also nur dem reproduzirenden Rünstler das
verständnis der Niederschrift, ohne ihn in der Freiheit
des Dortrags zu beeiuträchtigen. Line Übecladung
der Notenschrist mit Dortragsbezeichnungen ist gewiß
lästig, besonders sür die bei Tnsemblewerken beschäftig-
ten R'lusiker, welche uicht auswendig, sondern von
Noten spielen und singen; es ist aber gewiß nichts
dagegen einzuwenden, wenn die allgemein gebräuch-
lichen und von jedermann sür unentbehrlich gehaltenen
Zeichen möglichst so benutzt werden, daß sie ausdrücken,
was sie ausdrücken kännen, z. B. der Taktstrich, der
seine hervorragende Bedeutung in der Renntlichmachung
der schweren werte hat, aber so oft nachlässiger
weise salsch gestellt wird, desgleichen die gemeinsamen
(tzuerbalken, deren Brechung so deutlich die Linschnitte
markirt usw. Line erhebliche Tntlastung dec Noten-
schrist wäre möglich, wenn die theoretische 5chulung
durchschnittlich eine ausreichende wäre. Theorie ist
der Dersuch, die Gesetze zu ergründen, welche die
Schaffensthätigkeit des Romponisten bestimmen; soweit
ein Aomponist selbst beobachtend sie giebt, kann sie
Offenbarung sein, ist aber zufolge der Abneigung der
schaffenden Rünstler gegen solche ^elbstzergliederung
zumeist rückwärts schließende Abstraktion (Tmpirie).
Dennoch ist Theorie eine gute Schule nicht nur für
den Nicht-Romponisten, sondern auch für den Rompo-
nisten, sosern sie die ffchantasie vielseitig erregt, sie vor
Linseitigkeit bewahrt: sie ist ein aufgespeicherter ^chatz
von Trsahrungen, den jeder selbstschöpferisch Thätige
zu vermehren berusen ist. <Ls ist klar, daß das Stu-
dium der Theorie dem reproduzirenden Rünstler um
so mehr uotwendig ist, je weniger er selbst Romponist
ist; wessen eigene jDhantasie nicht im ^tande ist, Ton-
gebilde hervorzubringen wie die, deren Znterpretation
er unternimmt (wenn auch von geringerer Araft und
Größe, nach außen), der sollte wenigstens trachten,
durch fleißiges büudium des wesens der Lsarmonie
und des Rhythmus sich die nötige allgemeine Dor-
bildung zu erwerben. Leider ist es aber damit schlimm
bestellt. Die krasseste Unnatur, welche den natürlichen
Gesetzen des vortrags k)ohn spricht, wird als «geist-
reiche Znterpretation», als subjektive (!)Auffassung be-
jubelt, und man sindet nichts bedenkliches dabei, wenn
aus eiuem und demselben werke unter den könnden
zweier Dirtuosen zwei einander kaum mehr ähnliche
werden! Ts wird Zeit, daß den Dortragenden wieder
einmal ihre j?siicht zum Bewußtsein gebracht wird:

— 324 —
 
Annotationen