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Kunstwart und Kulturwart — 27,2.1914

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Heft 7 (1. Januarheft 1917)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14288#0054

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Vom tzeute fürs Morgen

Parteinamen als Sitten-
zeugnis?

uf dem christlrch-nationalen Ar-
beiterkongreß in Berlin sagte
Graf Posadowsky in seiner Schluß-
ansprache: „Es ist eine harte Prü-
fung für das Deutsche Reich, daß,
nachdem es sich so glänzend erhoben
hat aus jahrhundertelangem Elend,
durch das Volk ein so tiefer Schnitt
geht. Trotzdem dürfen wir nicht ver-
gessen, daß auch die Sozial-
demokraten Deutsche sind,
und wir dürfen nie die Hoffnung
aufgeben und kein Mittel verfehlen,
sie zurückzuführen in die bürgerliche
Gesellschaftl Das sind sehr ernste
Fragen." Und weiter: „Ich hoffe,
daß die kommenden Geschlechter noch
einmal die Zeit erleben werden, wo
der tiefe Riß, der heute durch unser
Volk geht, geheilt und das deutsche
Volk wieder ein einig Volk von
Brüdern sein wird."

Worin besteht der „Riß", den
jeder, der sein Volk liebt, heute so
schwer empsindet? Nicht darin, daß
es reich und arm gibt — die Kluft
war zu allen Zeiten da. Nicht darin,
daß die einen ein monarchistisches
Ideal haben, die andern aber das
Heil von der Demokratie erwarten
und am liebsten eine republikani-
sche Verfassung unsres Volkes sähen.
Schon ehe es ein Deutsches Reich
gab, stritt man sich darüber, ob ein
Kaiser oder ein Präsident an der
Spitze stehn sollte, und doch fiel es
niemandem ein, die andern nicht als
vollberechtigte Volksgenossen gelten
zu lassen. Also nicht die verschie-
denen wirtschaftlichen Interessen und
politischen Anschauungen sind es, die
das natürliche Band der Volksge-
meinschaft zu zerreißen drohn. Den
Riß reißt vielmehr von beiden Sei-

ten her die moralische Verket -
zerung. Und das eben macht ichn
so gefährlich.

Auf der einen Seite redet man
sich eifrig ein, daß die „Bürger-
lichen" eine verkommene, böswillige
Rotte seien, die zu verachten man
alle Arsache habe. Auf der andern,
daß die Sozialdemokraten lauter ver-
hetzte, neidische, haßerfüllte Men-
schen seien, die den Staat nieder-
reißen wollen, um dann ihre Genuß-
gier zu befriedigen. Ieder stützt sich
dabei auf irgendwelche persönlichen
Erfahrungen, die er verallgemeinert,
und von denen er nicht loskommen
kann. Er „weiß" doch, daß er die
Gemeinheit des andern „erlebt" hat.
Menschlichkeiten hat er erlebt,
wie sie in jedem Lager vorkom-
men. Nnd die multipliziert er mit
Millionenziffern, von deNen er auf
der Seite drüben nichts abzieht und
auf seiner Seite alles.

Weil aber der Riß ein solcher ist,
kann er weder durch einen besseren
Ausgleich der Güter, also durch
Sozialpolitik allein geheilt werden,
noch durch irgendwelche Art der
Politik sonst. Wer den Anders-
denlenden eben des andern Den-
kens wegen für schlecht hält, wird
immer ein Aber finden. Gegen sitt-
liche Schäden hilft nur sittliche Er-
ziehung, die aber kann immer nur
S e l b st erziehung sein. Sobald wir
soweit sind, trotz allen schlimmen Er-
fahrungen im Gegner den Volksge-
nossen zu sehn und durch die Art,
wie wir ihn behandeln, unser Volks-
tum zu ehren, in demselben Augen-
blick ist der Riß für uns überbrückt,
obgleich die wirtschaftliche und poli-
tische Gegnerschaft noch da ist.
Dann wird kein Bürgerlicher mehr,
wie es im Reichstag beliebt wor-
denist, sagen: einSozialdemokrat
 
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