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Kunstwart und Kulturwart — 27,2.1914

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Heft 7 (1. Januarheft 1917)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.14288#0040

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Lose Blätter

Das ferne Land

Novelle von A. M. Frey

^^s war sechs Achr morgens und so dunkel, als sei Mitternacht. (Lin
U^srüher Wind hatte sich aufgetan und spürte den Bahnsteig entlang.
^^Er stieß an schmutzige Papierfetzen; sie schurrten unwillig nber graues
Gestein. Die matten und schläfrigen Lampen erstickten in den hastigen
Rauchwolken der Lokomotive. Sie allein hatte ausgeschlasen. ELn ver-
haltenes Fauchen durchzitterte ihren Eisenleib, es tropfte warm und lebendig
von ihr herab, und wenn man nahe an sie herantrat, belehrte das rhythmische
Zischen ihrer Gelenke über die Ungeduld, heiß nnd ungestüm in die
Nacht, in den Morgen hineinrasen zu dürfen.

Es war ein Morgen, der nicht daran glauben ließ, daß er jemals
hell heraufkommen könnte. Der Mann, der den leeren Zug auf nnd ab
schritt, sah hoffnungslos in die Dunkelheit und höhnte die schläfrigen ranch-
erstickten Lampen, die gegen unermeßliche Finsternis lächerlich ankämpften.
Ihn fröstelte, und er dachte — wie an ein verlorenes Glück — an das
Hotelzimmer, in dem er vor kurzer Frist aus einem warmen und gutmütigen
Bette gekrochen war. Er sah den Teppich vor sich, den seine bloßen Füße
vertraulich berührt hatten, er sann der behaglichen Nähe der Heizung nach,
er fühlte noch den warmen Griff der Heißwasserkanne in seiner jetzt kalten
tzand. Er empfand alle diese Nebensächlichkeiten wie vergeudete Güter
und dünkte sich so fremd und verirrt, als sei er aus der Welt seines bis-
herigen Daseins hinausgedrängt und irgendein armseliges Leben hin-
zubringen gezwungen, wo alles voll stnmmer Feindschaft, sinnlos und
unentwirrbar für ihn blieb.

Der Minutenzeiger der großen erleuchteten Nhr tat einen schreckhaften
Sprung. Die Zeit der Abfahrt schlich heran — so heimtückisch lautlos,
daß man sie leicht verpassen konnte. Der Mann suchte einen Wagen
auf. Im Inneren roch es nach altem und kaltem Tabak, und dieser
Geruch barg jene Gesichter in sich, die ihn ausgestoßen hatten, barg
Lärm des Tages, Reden und Lachen von einem schalen und verbrauchten
Gestern. Der Mann ließ ein Fenster herunter, um diese Sargluft des
toten Gestern nicht atmen zu müssen. Dann setzte er sich in die Polster
und wartete anf irgend etwas. Daraus, daß er warm werde, auf den Pfifs
des Zugsührers, auf den Morgen oder anf das Rollen und Stoßen lansen-
der Räder — vielleicht auch darauf, einzuschlafen. . .

Als er sich aus einer Willenlosigkeit zusammenraffte, um seine frieren-
den Knie mit den zu kurzen Zipfeln seines Mantels zu bedecken, erkannte
er, daß der Zug bereits im Fahren war, und daß eine Frau ihm gegen-
über in den Kissen lehnte. Man hatte es nicht für nötig gehalten, dem
Wagen Licht auf die Reise mitzngeben. Er lief ja in einen neuen Tag
hinein. Man hoffte auf diesen Tag. War man außer Zweifel, daß
er kommen werde? Dem Manne schien es nicht so ganz gewiß, obwohl
die Gestalt seines Gegenübers von einem aufgehellten kalten Blau um-
froren war, in welchem die an Dunkelheit gewöhnten Angen ein bleiches
unbewegtes Gesicht und weiße bewegte tzände sahen. Die bewegten tzände

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