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Kunstwart und Kulturwart — 27,2.1914

DOI Heft:
Heft 8 (2. Januarheft 1914)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Gestalten und Puppen
DOI Artikel:
Wienecke, Chr.: Kunstwerk, Künstlerpersönlichkeit, Kunstgeist: Grundsätzliches zur Wertung der "Klassiker der Kunst"
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https://doi.org/10.11588/diglit.14288#0121

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Gudrun und Tristan, Elektra und ödipus und was uns sonst noch
in letzter Zeit von großem alten unsterblichen Leben „näher gebracht"
worden ist — angesichts der Urbilder wird nran über diese heut modischen
Sanatoriumsgastfiguren bald ebenso lächeln, wie wir das heut über den
Helios mit den Indianerfedern und die Venus in der Krinoline alter
Bühnenstücke tun. Ist es denn aber nötig, daß auch ein Haufen Ge-
bildeter solche Zeitnarrheiten mitmacht? Wer, das plumpe aber bezeich-
nende Wort zu brauchen, auf Hardts Gudrun und Tantris „hereinge-
fallen" ist, der steigt nicht in zwei Minuten wieder aus seiner Grube und
geht seines Wegs weiter. Fürs erste ist ihm das Bild einer nun über
acht Iahrhunderte leuchtenden Gestalt durch diese andre da, die unter
gleichem Namen mit der körperhaften Zudringlichkeit der Bühne in sein
Bewußtsein tritt, unwidersprechlicherweise verfälscht worden. Er wird
der echten Gudrun kaum denken können, ohne daß diese sogenannte neben,
nein: verdrängend i n sie tritt. Das konrmt )a von der sprechenden Raum-
kunst der Bühne, läßt sich nicht ändern und ist beim schlechtesten Theater-
stück genau so wie beim guten, gilt vielleicht sogar vor der Kulissenreißerei
am stärksten: was sich mit Haut und Haaren vor dich stellt und in dich
hineinredet, das erzwingt rein physiologisch stärkere Eindrücke, als der
stille Geisterhauch aus einem Buch. Mag ein Zerrbild auf ihr noch so
kläglich sein, nur der ist davor sicher, dessen ästhetische Kultur stark genug
ist, um auch bei täuschender Maske sofort zu fühlen: hier ist keine lebende
Gestalt, sondern nur redende Person. Erwärmung, wenn auch noch so
vorübergehende, bedeutet Aufnahme ins Erleben. Bedeutet in all den
genannten Fällen Fälschung von Werten, die fortan dem Aufnehmenden
verkleinlicht und verderbt bleiben. Für eine Weile wenigstens, denn
allerdings: nicht nur die Flüsse haben ihre Selbstreinigung, auch die
Wasser der Menschheit haben sie, wenn sie nur strömen und nicht stehen--
bleiben. A

Kunstwerk, Künstlerpersönlichkeit, Kunstgeist

Grundsätzliches zur Wertung der „Klassiker der Kunst"

^^s scheint nichts Selbstverständlicheres zu geben als dies: Gegenstand
>7^des Kunstgenusses kann nur das Kunstwerk selbst sein. Fast mutet das
^>^wie eine Tautologie an. Aber es ist mit den Selbstverständlichkeiten
wie mit Baumwipfeln im Walde: je länger man sie anschaut, um so
klarer sondern sie sich unserm Blick in die Kronen verschiedener Aste
und Zweige. Achten wir nur einmal darauf, was die Kunstfreunde be-
schäftigt. Nicht nur die Bilder selbst, sondern auch die Künstler, darüber
hinaus die Kultur der Zeitalter. Man sagt gemeinhin: diese Dinge sollen
uns nur fördern im Erfassen der eigentümlichen Werte eines Werkes.
„Sollen" sie? Befragen wir uns ganz ehrlich, wenn wir in eine Bilder-
sammlung gehn: sehn wir dieses oder jenes Bild wirklich nur um seiner
selbst willen an? Wieviel von dem, was da hängt, betrachten wir doch nur,
um einen bestimmten Künstler kennen zu lernenl In sehr vielen Fällen
ist, darüber sollen wir uns nicht täuschen, die Beschäftigung mit dem Künstler
nicht Mittel zur Vertiefung in das Bild, sondern umgekehrt: die Be-


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