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Kunstwart und Kulturwart — 27,2.1914

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Heft 11 (1. Märzheft 1914)
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Lose Blätter
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14288#0462

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Augen und hagerem, schlotterigem Körper. Und dieser Einarm hielt sich
mit der Linken an den Türpfosten, alle Anzeichen der Trunkenheit zeigend.

Der Krüppel war Poldis Vater. Und das alles war Poldis Heim unL
Familie.

Vom Zeute fürs Morgen

Neligiöse Kultur

/Aultur und Zivilisation, den Lesern
^dieses Blattes eine geläufige
Gegenüberstellung, jedem aus diesem
Kreise nach Klang und Vorstellungs-
bedeutung sofort klar. Kultur und
Zivilisation unterscheiden sich wie
Schöpfung und Chaos: Iene ohne
diese nicht möglich, diese ohne jene
wertlos. DieseProduktion, jeneDiszi-
plin, diese Stoff, jene Ordnung,
diese Gewirr, jene Zusammenklang.
Asthetisch betrachtet ist Kultur eine
Verallgemeinerung des Begriffs
„Stil", seine Anwendung über das
ursprüngliche Gebiet des Künstleri-
schen hinaus. Das Wort Kultur be-
deutet einen ästhetischen Imperativ;
es verlangt von allem, was das
Menschenleben berührt, Unterord-
nung unter einen ästhetisch-harmoni-
sierenden Geist. Kultur ist Linklang
der Lebensumstände.

Wenn man über die Zustände
unseres religiösen Volkslebens klagt,
so kann man von arbeits- und er-
folgsfrohen Verteidigern unserer
Zeit eine Gegenrechnung aufgemacht
bekommen: Die religiös-soziale Ar-
beit mit ihrer in früheren Zeiten
ungeahnten Ausdehnung, inneren
Zweckmäßigkeit und äußeren Erfol-
gen; die Hebung der kirchlichen Zu-
stände durch bessere Versorgung der
Gemeinden mit Geistlichen und Got-
teshäusern, durch soziale Sicherstel-
lung und wissenschaftliche Hebung
des Pfarrerstandes; die völkisch-reli-
giöse Arbeit der Missionen; das —
sei es auch oft zersplitternde oder
gar negierende — Interesse breiter
Schichten an religiösen Fragen.
Alles das ist wahr, alles das über-

trifft vergangener Zeiten Leistun-
gen — aber so, wie unsre Ma-
schinenproduktion das alte Handwerk
in den Schatten stellt: an Masse.
Religiöses Chaos, religiöse Zivilisa-
tion — religiöse Stillosigkeit, reli-
giöse Kulturlosigkeit!

Wir müssen unsern Blick zurück-
wenden, um zu verstehen, was reli-
giöse Kultur ist. Mag das Mittel-
alter „finster", mag es „abergläu-
bisch", mag es „barbarisch" gewesen
sein; es hatte Kultur, es hatte Stil,
wie im sonstigen Leben, so in der
Religion. Die Einheitlichkeit, die
Harmonie seines religiösen Lebens
lag nicht einsach in der hierarchischen
Organisation der Kirche begründet;
diese war ihr Ausdruck, nicht ihr
Grund. Ihr Grund war die Gleich-
artigkeit der Menschen und der
Dinge. Alles Volk, auch das der
Städter, auch das der Besitzenden,
war noch eng an den Ackerboden und
seinen Ertrag gefesselt. Hier lag
eine allen gemeinsame Quelle reli-
giöser Ehrfurcht. Wenn wir — eine
Ruine aus längstvergangener Zeit —
im Kirchengebet von der „gedeih-
lichen Witterung für die Früchte des
Feldes" hören (vielleicht in einem
rauchgeschwärzten Industrieort oder
neben den Kais einer aus der süd-
lichen Hemisphäre das Getreide
importierenden Handelsstadt), oder
wenn wir in der alten Litanei singen
hören: „Vor Pestilenz und teurer
Zeit, vor Feu'r und Wassersnot,
vor Hagel und Rnwetter behüt uns,
lieber Herre Gott^, da fühlen wir
etwas von jener Zeiten religiösem
Stil. Mochten Ketzer auftreten, Re«
formationen stürzen und neubauen,

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