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Kunstwart und Kulturwart — 27,2.1914

DOI Heft:
Heft 7 (1. Januarheft 1917)
DOI Artikel:
Stapel, Wilhelm: Austritt aus der Kirche?
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https://doi.org/10.11588/diglit.14288#0021

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Austritt aus der Kirche?

^^as Gleichnis von dem Hirten, der auszog, ein verirrtes Schaf zu
(H^suchen, und derweilen die übrige Herde sich selbst überließ, trifft auf
^^unsre Kirchenbehörden ganz gewiß nicht zu. Sie trösten sich über
die Tausende, die der Kirche entrinnen, indem sie die Scharen über«
blicken: sind es doch trotz aller Künste Pans vorläufig „nur^ immer
Lausende, die Millionen bleiben auf sanfter Weide. Man tröstet sich
damit, daß der Staat die Kirchlichkeit will, seine Paragraphen und
seine Gewohnheiten werden den Bestand der Kirche sichern. Ist wirklich
der Paragraph anstatt des Wortes Gottes der Fels der' Hoffnung?
Tatsächlich gibt es Kirchenmänner, die angesichts des allgemeinen Werbens
für den Kirchenaustritt nicht etwa sagen: Ihr müßt die frohe Botschaft
unsres Gottes immer klarer und herzlicher verkünden, damit sie die Seelen
der Menschen besser gewinne; sondern die ernsthaft fordern: Spannt ein
paar Stacheldrähte mehr über den Kirchenzaun, damit die Ausreißer noch
mehr als bisher ihre Hosen riskieren; macht die Austrittsformalitäten
noch verwickelter, als sie schon sind. Sie halten die Gründe der Aus--
trittsbewegung für persönliche, zufällige, Es sind aber tiefe nnd allge-
meine Gründe, die auf viele wirken. Hier fallen die ersten Blätter eines
Herbstes. Die Wipfel sind welk geworden. Wo ein Lüftchen sich regt,
löst sich ein Schwarm von Blättern. Wenn einmal der Sturm wirbeln
wird, wie dann? — Und wer sagt, ob in der Wurzel dieses Baumes ein
neuer Frühling wartet? Man muß begreifen, daß die Austritte all der
Einzelnen aus den Landeskirchen nur die Realisierung eines geistigen
Zustandes bedeuten. Zum großen Teil ist die Kirche nur noch eine
Beamtenorganisation, das innere Leben — trotz aller Vielgeschäftigkeit —
entwich, die Teilnahme sehr vieler Menschen wandte sich andern Dingen
zu, nun gehen auch diese Menschen selbst. Wenn aber einmal schwere
Zeiten kommen, was soll uns da eine Kirche helfen, die nicht mehr vom
Herzen aus lebendig das gesamte Volk durchblutet?

Welches sind nun die Gründe, die so viele Menschen bewegen, sich
öffentlich von der Kirche loszusagen? Nicht die Gründe der Gleichgültig-
keit gegen die Kirche überhaupt — die zu entwickeln brauchte es eine
ganze Kulturgeschichte —, sondern die, welche die Menschen bis auf den
Punkt bringen, nach ihrer Äberzeugung nicht nur zu schweigen, sondern
zu handeln? Da ersparen sich viele Leute die Untersuchung
durch eines der Gedankenschemata, die in unserm öffentlichen Leben eine
so große Rolle spielen, und zwar durch das von der „Verhetzung". Man
liest in allerlei Berichten von Hetzreden in den Austrittsversammlungen
— damit ist der „Beweis" fertig. Also auf der einen Seite das harm-
lose, biedere Volk; auf der andern die kohlrabenschwarzen Bösewichter,
die es „verhetzen" und „irreführen". Eine Sozialpsychologie dieser Art
reicht aus als Voraussetzung für einen Schundroman, nicht aber für
die Erklärung von Wirklichkeiten. Gewiß spielt blindes, auf augenblick-
licher Gefühlswallung beruhendes Mitläufertum bei allen größeren
geistigen Bewegungen eine Rolle, denn es gibt nun einmal viele sug«
gestible und leicht erregbare Naturen. Gewiß wirkt in Massenversamm-
lungen die bloße Erregung schon suggestiv und sprengt, in der Häufung,
die Selbstbeherrschung empfänglicher Gemüter, so daß es, wie in Berliner
Werbeversammlungen des Komitees Konfessionslos, zu Roheiten kommt.

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