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Kunstwart und Kulturwart — 27,2.1914

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Heft 12 2. Märzheft 1914)
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Avenarius, Ferdinand: Raubbau am Heimatswert: auch etwas zum Vorfrühling
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Schlaikjer, Erich: Wedekind als Zeiterscheinung
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https://doi.org/10.11588/diglit.14288#0502

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inüssen, die böse Kämpfe gebracht hätten. Vor allem aber: ein so jäher
Wechsel hätte etwas von Gedankenmode an sich gehabt, an deren Dauer
kaum zu glauben wäre. Wie's ist, scheint mir's gesünder: die niemals
klar gedachten oder durch ein paar Manchestertum-Iahrzehnte abgewöhnten
Gedanken werden allmählich wieder stark. Sie „sollen" nicht nur, sie
werden sich noch sehr wesentlich stärken, so gewiß sie nicht aus Astheten-
und Liebhaberwünschen, sondern aus Lebensinteressen der Menschengemein-
schaft wachsen. Daß sie sich mit ungezählten andern Rechten auseinander-
setzen und vergleichen müssen, ist klar. Aber von Iahr zu Iahr wird
beim Abwägen der Interessen von Nur-Nutzgelände hier und Heimatwert
dort die Schale Heimatwert schwerer wiegen, weil man auch vom Nütz-
lichen immer mehr auf ihr finden wird. Möge in der kritischen Abergangs-
zeit so wenig wie möglich an Unersetzlichem verloren gehn! Nicht nur
„der Touristen wegen" dürfen die altersgeheiligten Eichen im Spessart
trotz ihrer „Aberjährigkeit" nicht fallen, und ebensowenig darf der Spree-
wald aus dem, was er jetzt ist, ein Nichts-als-Nutzland werden. A

Wedekind als ZeiLerscheimmg

ls kürzlich im Lessingtheater der Simson gespielt wurde, offenbarte
sich in der Kritik eine Erscheinung, die man auch früher beobachten
'^^konnte, kaum jemals aber in dieser erbarmungslos ausgeprägten
Schärfe. Kritiker, von denen man durchaus annehmen mußte, daß sie
redlich ihr Inneres aussprachen, hatten einen starken Eindruck gehabt.
Andere wieder, deren geistige Zuständigkeit ebenso unanfechtbar war, sprachen
schlankweg von einem Schmarren.. Von den dunklen Herrschaften, die
Wedekind fördern, weil sie dadurch die künstlerische Dekadenz zu fördern
hoffen, sehen wir augenblicklich ab.

Der Verfasser dieser Zeilen will nicht verschweigen, daß er den Dramatiker
Wedekind nicht ernst nimmt und daß seine krampfhaften geistigen Ver-
zerrungen ihm in der tiefsten Seele zuwider sind. Mit diesem persön-
lichen Standpunkt aber ist nicht. aus der Welt geschafft, daß anerkannte
und anerkennenswerte Asthetiler völlig anders denken. Wie kommt das?

Wer die tzexenprozesse historisch mit einem „Hexenwahn" erklären
wollte, hätte nach Reuters lustigem Rezept die Armut auf die Pauverts
zurückgeführt. Daß die Hexenprozesse einen Hexenwahn verkörperten, ist
selbstverständlich. Die Nntersuchung beginnt erst bei der Frage, wie dieser
Wahn entstehen konnte.

In der gleichen Weise darf man den Wedekind-Kultus nicht mit der
Wedekind - M o d e erklären wollen. Weil es so bequem ist, geschieht
es fortwährend, wie denn überhaupt die Ableitung der Armut aus der
Pauvertö eine sehr beliebte wissenschaftliche Methode ist. Will man wirk-
liche Ergebnisse, darf man das Problem nicht umgehen. Die Wede-
kind-Anerkennung hat sich in Köpsen festgesetzt, die sich von der journa-
listischen Wedekind-Reklame unter keinen Nmständen HLtten vergewaltigen
lassen. Das müssen wir als eine Tatsache aussprechen, und damit müssen
wir uns abfinden.

Im folgenden soll nun der Versuch gemacht werden, die Widersprüche
der Kritik in einer höheren Einheit aufzuheben. Wir wollen einen Staud-

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