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Kunstwart und Kulturwart — 27,2.1914

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Heft 12 2. Märzheft 1914)
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Schlaikjer, Erich: Wedekind als Zeiterscheinung
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https://doi.org/10.11588/diglit.14288#0503

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punkt zu gewinnen suchen, von dem aus diejenigen Recht haben, die nach
dem Simson ergriffen das Theater verließen, diejenigen aber nicht minder,
die ihn kurzerhand als einen Schmarren bezeichneten. Daß eine der-
artige Erklärung unmöglich in den Wedekindschen Dramen selber liegen
kann, ergibt sich aus ihrer Eigenart. Wenn man seine Ansichten aus den
Dramen selber ableiten wollte, könnte man nicht denen recht geben, die
„Schmarren" sagen, um dann ebenso verständnisinnig jenen anderen die
tzand zu drücken, die von einer starken Leistung erschüttert sind. Wenn
man die Widersprüche aufklären will, muß man in diesem Fall seinen
Standpunkt außerhalb der ästhetischen Welt nehmen.

Wir alle gehören einer unruhvollen Äbergangsperiode an. Im wirt-
schaftlichen Leben sind die alten stillen Formen des Handwerks zerfallen
oder zum mindesten stark erschüttert. Mit diesen alten Formen aber
zerfiel eine ganze ehrwürdige moralische Welt. Wir alle stammen aus
dieser Welt. Wir denken noch immer ihre Gedanken und wir lassen
unsere Kinder in ihnen groß werden. Wenn man aber mit diesen Ge-
danken in den rastlosen Wirbel einer modernen Weltstadt hineingeht,
werden sie von der Gemeinheit des Lebens in eine Posse verwandelt.
Wird aber ein moralischer Wert in eine Posse verwandelt, hat man dann
nicht ein Stück von Wedekind?

Die Söhne unserer Söhne werden vielleicht wieder in einem selbst ge-
zimmerten Haus wohnen und werden von einem Leben umspült sein, das
zu ihren geistigen Anschauungen stimmt. Unser Haus aber ist abgebrannt,
und wir stehen srierend auf der Landstraße, wo unser verirrter Hausrat sich
armselig genug ausnimmt. Wir leben zwar in der modernen Welt, eine
tzeimat aber haben wir in ihr nicht gefunden. And wer durch eine Gegen-
wart wandert, in der er keine Heimat hat, kann niemals glücklich sein.
Wir sind keine Nomaden. Unsere Väter hatten für Elend und Heimat-
losigkeit ein Wort. Wir leiden, weil wir unser Haus nicht bauen
können.

Rnd nun frage ich unvermittelt: was ist eine künstlerische
Groteske?

Es ist ein sinnfälliger Widerspruch zu ehrwürdigen Anschauungen,
dem man gleichwohl weder Realität noch tieseren Sinn absprechen kann.

And was ist das Leben eines modernen Abergangsmenschen?

Es ist der sinnfällige Widerspruch zu einer Welt, der er gleichwohl weder
Realität noch tieseren historischen Sinn absprechen kann.

Ist es unter diesen Umständen so verwunderlich, daß das Wort „Gro-
teske" eine Art von künstlerischer Mode wurde?

Wer den Witz unserer Witzblätter ästhetisch zu- analysieren versteht,
wird immer wieder erkennen, daß er auf einen schneidenden Widerspruch
zurückgeht und die beißende Groteske bevorzugt. In den „Fliegenden
Blättern" spinnt noch der Witz unserer Väter seine traulichen Schnurren.
Wer die Entwicklung mit HLnden greifen will, halte neben ihren stillen
Frieden etwa den Simplicissimus: er hat dann neben einer Welt der
Ruhe eine Welt der Widersprüche und der schneidenden Grotesken.

In den „Fliegenden Blättern" steht der Hausrat noch an seinem Platz.
In den modernen Witzblättern ist er auf die Straße geworfen, und aus
dem Dach schlagen die Flammen.

Wenn aber die moderne Welt bis zu einem gewissen Grad eine Gro-
 
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