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Kunstwart und Kulturwart — 27,2.1914

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Heft 12 2. Märzheft 1914)
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Schlaikjer, Erich: Wedekind als Zeiterscheinung
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https://doi.org/10.11588/diglit.14288#0504

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teske ist, wcrrum sollten dann nicht die Grotesken von Wedekind auch
bis zu einem gewissen Grad zeitgemäß sein?

Wir sind heimatlos in der modernen Welt. Wir sind unglücklich, weil
unser germanisches Blut nicht heimatlos zu sein vermag. Wir leiden
an der Wirklichkeit und halten mit Hamlet die Welt sür ein Gesängnis.
Wenn darum ein geistiger Desperado, sei es auch mit einem hirn--
verbrannten Ansinn, diese Welt in die Luft sprengt, sieht im be-
sonderen die jüngere Generation nicht den Desperado, sondern empfindet
eine seelische Befreiung, weil die Bastille der Wirklichkeit für die Dauer
eines Theaterabends in die Luft gepufft wurde.

Wer mit offenen Augen durch eine Weltstadt geht, sieht lauter Gro--
tesken, erlebt lauter Grotesken, empfindet lauter Grotesken. Das gilt vom
Philosophen wie vom einfachsten schleswig-holsteinischen Fischer; vom letz-
teren wahrscheinlich noch mehr, weil er von seinen überkommenen ger-
manischen Anschauungen wehrloser abhängig ist.

Wenn wir aber so mit allen Poren unsres Wesens das Groteske ein-
atmen, muß es notwendig zu einer Lebensstimmung werden, und
selbst das ahnungslose breite Publikum fängt dann an, in seinen Ver-
gnügungen das Groteske zu suchen. Die groteske Welt auf den Kopf
stellen, wird die Losung des Amüsements, und der Kenner des Berliner
Lebens weiß, wie willig man ihr leider folgt. Vom geschichtlichen Milieu
sind wir abhängig wie vom Klima. Ich will darum keinen polemischen
Stich führen, wenn ich jetzt ausspreche, daß es dieselbe Zeitströmung ist,
die Mister Meschugge dirigieren und Frank Wedekind schauspielern und
dichten läßt.

Bei Wedekind finden diejenigen ihre Rechnung, denen es aus die

seelische Prostitution eines Menschen nicht ankommt, wenn sie dabei nur

grinsen können. Ebensosehr aber können sehr ehrenwerte Leute in

seinen Dramen den Schrei des gequälten modernen Menschen ver-
nehmen. Den Schrei des Friedlosen; den Schrei des Hasses; den Schrei
des Hohnes über eine Welt, die nicht als ein Unglück, auch nicht als
eine Posse, sondern als ein possenhaftes Unglück empsunden
wird.

Wer auf die Dramen Wedekinds sieht: auf ihre Gestaltungskrast, ihren
Dialog, ihre reformatorischen Ideen, der sagt vielleicht mit dem Ver-

fasser dieser Zeilen: Schmarren. Wer aber die Stimmungen empfindet,
die in diesen fragmentarischen Leistungen nach Sprache ringen und die
selbst im unartikulierten Schrei noch zu erschüttern vermögen, dessen
Seele kann sehr wohl entflammt werden. Ist sie aber einmal entflammt,
so sieht er selbstverständlich auch die rein ästhetischen Werte mit anderen
Augen.

Man kann vielleicht epigrammatisch sagen, daß Wedekind keine Tra-
gödien schreibt, wohl aber selber eine moderne Tragödie ist. Wenn das
Bewußtsein dieses persönlichen Zusammenhangs geschwunden ist, wenn
das große mitspielende Orchester der Zeit verstummt ist, werden die
literarischen Gelehrten sich ratlos fragen, wie diese Arbeiten überhaupt
jemals gespielt werden konnten. Erich Schlaikjer

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