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Kunstwart und Kulturwart — 27,2.1914

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Heft 12 2. Märzheft 1914)
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Schmidt, Leopold: Musikalische Wunderkinder
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https://doi.org/10.11588/diglit.14288#0505

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Musikalische Wunderkinder

^^v^-ir leben im Zeitalter der musikalischen Wunderkinder. Line gute
H NWeile hatte es geschienen, als ob man die Ansnntzung frühreifer
Begabungen als unwürdig aus dem öffentlichen Konzertleben ver-
bannte; oder es hatte vielleicht tatsächlich an sensationellen Lrscheinungen
auf diesem Gebiete gefehlt. Die großen Meister des Klaviers und der
Violine entwickelten sich mehr in der Stille — die Gesangskünstler
kommen ja aus natürlichen Gründen überhaupt nicht in Betracht. Das
gefährliche Beispiel hatte einst der junge Mozart gegeben, wohl das erste
„Wunderkind" von europäischem Rufe. Seine Lrfolge riefen den Ehr-
geiz und die Gewinnsucht gewissenloser Eltern wach, und manches junge
Talent ist dadurch zugrunde gerichtet oder doch um das Glück seiner
Iugend, um seine Gesundheit gebracht worden. Was hatte nicht Beet-
hoven von seinem Vater zu leiden, und wie verhängnisvoll gestalteten sich
nicht aus ähnlichem Grunde die Lehrjahre Karl Marias von Weber!

Die zweite Hälfte des neunzehnten Iahrhunderts dachte, wie gesagt,
ernster über solche Dinge. Seit etwa der Wende des zwanzigsten Iahr-
hunderts aber ist das anders geworden. Wie Pilze schießen die Wunder-
kinder aus der Erde, besonders die Geige spielenden, und man kann, so-
weit sich das kontrollieren läßt, nicht einmal sagen, daß sie sich in ihrer
künstlerischen oder menschlichen Lntwicklung geschädigt zeigten. Ein un-
geahnter Reichtum an Begabung dringt namentlich aus dem Osten, aus
slawischen Ländern zutage, und eine Methodik des Unterrichts hat sich
ausgebildet, die beinahe nie zu versagen scheint. Diese Erfahrungen haben
neuerdings wieder die Aufmerksamkeit auf das Problem der Wunderkinder
gelenkt und die Frage, wodurch die Möglichkeit einer solchen Frühreife
zu erklären sei, lebhafter angeregt. Professor Karl Schleich, der geistvolle
Physiologe und Arzt, hat sie von seinem Standpunkt zu beantworten ver-
sncht und sieht den Grund in dem Wegfall der Hemmungen, denen wir
im späteren Leben unterworfen sind. Diese Erklärung hat zunächst etwas
Bestechendes. Wir alle empfinden ja, wie wir, je älter wir werden, desto
mehr unter dem Linflnß nnseres Nervensystems stehen, kennen die Er-
fahrungen, Vorstellungen und Angste, die uns beim Herausstellen unsrer
Persönlichkeit und jedwedem Wirken in der Offentlichkeit lähmen und
unfrei machen, den einen weniger, den anderen mehr. Wer große
Künstler kennt, weiß, welche Qualen, die sich oft bis zu körperlichen Krank-
heitszuständen steigern, die meisten von ihnen durchznmachen haben. Das
alles geht im letzten Grunde auf das erwachte Bewußtsein von den
Schwierigkeiten des zu Leistenden zurück. Das Kind weiß von alledem
nichts. Es überwindet die Schwierigkeiten, weil es sie nicht fürchtet, weil
es sie gar nicht kennt. Schleich erklärt die kindliche Frühreife also aus
negativen Gründen. Das Können ist ihm das Natürliche. Wir Er-
wachsenen würden — die nötige Begabung und Technik vorausgesetzt —
ebenso spielen wie diese Kinder, wenn wir nicht durch Bewußtheit daran
verhindert würden. Das erinnert an den boshaften Ausspruch des
jüngeren Dumas: „Wie kommt es, daß die meisten kleinen Kinder so klug
sind und die meisten großen Menschen so dumm? Es muß an der Er-
ziehung liegen!"

Schleichs Hypothese wäre annehmbar, wenn es sich bei den sogenannten
Wunderkindern nur um die technische Fertigkeit und nicht auch um den

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