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Kunstwart und Kulturwart — 27,2.1914

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Heft 12 2. Märzheft 1914)
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Schmidt, Leopold: Musikalische Wunderkinder
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https://doi.org/10.11588/diglit.14288#0506

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ost verblüffenden seelischen Ausdruck ihres Spieles handelte, und wenn
ihre Fähigkeiten überhaupt auf die Reproduktion von Tonwerken be--
schränkt blieben. Beides aber ist nicht der Fall. Gerade in jüngster Zeit
hat sich die schöpferische Begabung in ungewöhnlich frühem Alter schon
entwickelt gezeigt und viel von sich reden gemacht. Ich denke dabei nicht an
den russischen Knaben, von dem die Kunde ging, daß er sich vor ein
Orchester stelle und eigene und sremde Werke dirigiere. Das Wunder
schrumpst sehr zusammen, wenn man hört, daß der Iunge keine Note
kennt, und daß andere für ihn in den Vorproben die Werke einstudieren
müssen. Aber in Wien sind fast gleichzeitig zwei junge „Genies" er-
standen, die tatsächlich auch auf kompositorischem Gebiete alles bisher
Erlebte in den Schatten stellten. Noch mehr als der aus Nngarn stam-
mende Georg Szell hat Wolfgang Erich Korngold die Mitwelt in Er-
staunen versetzt. Bei ihm ereignete sich der seltene, wohl kaum noch
beobachtete Fall, daß ein Kind ohne alle Vorstufen der Entwicklung sich
gleich mit den letzten Errungenschaften der Kunst vertraut zeigt. Der
kleine Korngold knüpfte in seinen ersten Versuchen nicht etwa an Wagner,
Liszt, Brahms oder Bruckner, sondern an den späteren Richard Strauß,
an Reger, Debussy, Schönberg und andere fortschrittliche Geister an, die
noch mitten im Kampfe des Tages stehen. Er begann, wo andere aushören,
und als man die keineswegs kindliche, vielmehr altkluge, sozusagen über-
reife Musik des Elfjährigen hörte, konnte man sich eine weitere, natür-
liche Entwicklung seiner Gaben nicht recht vorstellen. Wirklich mußte er,
um vorwärts zu kommen, erst wieder zurückgehen. Seine neuerdings
erschienenen Werke, eine „Ouvertüre" und mehr noch eine „Sinfonietta",
zeigen ein verhältnismäßig harmloseres Gesicht, dafür aber mehr wirkliche
Selbständigkeit und eine erstaunliche Herrschaft über die Mittel des
Orchesters. Die Berliner Aufführung der Sinfonietta unter Nikisch trug
dem jungen Komponisten, der inzwischen allerdings fast das siebzehnte Iahr
erreicht hat, einen rauschenden Erfolg ein. Wenn man aber bedenkt, was
Beethoven, was Wagner, was Richard Strauß mit siebzehn Iahren ge--
wesen, so erscheint das Phänomen Korngold im höchsten Grade beachtens--
wert und läßt die Möglichkeit offen, daß wir es hier mit einem der--
einstigen neuen Eroberer im Reiche der Tonkunst zu tun haben. Gewiß
arbeitet der Knabe vorläufig nur mit schon Gehörtem, von andern Er-
fundenem; aber wie er es für seine Zwecke' verwertet, das grenzt in seiner
Art wirklich ans Geniale. Aud man bedenke, eine solche Frühreife, eine
solche geistige Evolution zwischen elf und sechzehn Iahren!

Ich habe das Beispiel Korngold erwähnt, um zu zeigen, daß die Theorie
von den „Hemmungen" nicht ausreicht, um alle musikalischen Wunder zu
erklären. Die kompositorische Begabung kann unter Amständen aus ver--
schiedenen Gründen nicht halten, was sie in der Iugend versprochen hat;
aber sie ist keine Sache, die man im späteren Alter Gefahr läuft, durch
zunehmende Erkenntnis zu verlieren. Ebensowenig wird durch die mensch-
liche Entwicklung gelähmt, was wir in der Darstellung von Kunstwerken
den seelischen Ausdruck nennen. Als der Geiger Vecsey etwa zwölsjährig
der Offentlichkeit bekannt wurde, war er ein echtes, unbefangenes Kind.
Noch abends im Künstlerzimmer tollte er umher, drehte das elektrische
Licht aus und trieb andere Possen, aber sobald er die Geige in der
Hand hatte, wurden seine Züge ernst, und er spielte tiefgründige Meister-
werke mit dem Verständnis eines völlig reifen Menschen. Wer den
 
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