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Kunstwart und Kulturwart — 27,2.1914

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Heft 7 (1. Januarheft 1917)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.14288#0041

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nahmen den Hut vom Kopf und entblößten reiches und in der (Lile der
frühen Aufbruchsstunde wohl ein wenig unsorgsam hochgestecktes Haar.
Dann zogen die beweglichen Hände an einer dünnen Kette; die zwischen
Hals und Kragen in die Tiefe ging, und dies war anzusehen gleich einer
geheimnisvollen und schrecklichen Operation, wie sie Fakire an ihren Leibern
vorzunehmen pflegen. Line Uhr kam als Gefangene der langen Kette
zum Vorschein, und eine Stimme sagte für sich: „Zehn Minuten Ver-
spätung. Wenn ich nur den Anschluß nicht versäume."

Der Mann, ganz in die Gegenwart sich zwingend, tauschte aus Höslichkeit
mit der Unbekannten einige Worte, aus denen hervorging, daß sie schon
auf der nächsten Station umsteigen mußte und den anderen Zug nicht
mehr zu gewinnen sürchtete. Wiederum aus Höflichkeit sagte er ein paar
Sätze, die das Erreichen des Anschlusses gewährleisten sollten. Er sprach
auch deshalb, weil er eine Gegenrede wünschte, denn sie kam von einer
Stimme, die ihm angenehm war, ihm wohltat in dieser kalten und ein-
samen Dunkelheit. Diese Frau — dachte er — vielleicht ist es die, mit
der ich glücklich werden könnte. Vielleicht die einzige auf der ganzen
Welt. Aber wir kennen uns nicht und werden uns weiter nicht kennen
lernen. Sie steigt ja um auf der nächsten Station. . . . Und das Hotel-
zimmer, verlockend in all seiner Nüchternheit, kam ihm wieder in den
Sinn, seine behagliche Wärme, die Freundlichkeit seiner Teppiche, das
heiße Wasser . . . und sie, jene Frau, stand im elektrischen Licht — denn
der frühe Morgen draußen war noch kalt und schwarz ^ vor dem Spiegel
und steckte das schöne tzaar auf, ein wenig in Eile und ohne die gewohnte
Sorgfalt, denn sie mußten beide auf den Zug. Aber dem reisefertigen
Koffer dunkelblau lag ihr Mantel. Lr wird ihr hineinhelsen. Voraus
schon empfand er dabei — wie ein heimliches Glück — den hinstreifen-
den Kitzel ihrer Nackenhaare über seinen Handrücken. — Nnd wohin
fuhren sie dann? Nun, irgendwohin, zu zweit hinein in das Leben. Zu
zweit.

Aber dem war nicht so. Iedes lebte für sich allein. Iene Frau —
wenn sie auch mit ihm gesprochen hatte — war ihm um keine Hand-
spanne näher, als irgendein Mensch, der ungezählte Meilen entfernt
und zur nämlichen Stunde — wie seltsam — durch russische Steppen reiste.

Der Mann sank tiefer in durchrüttelte Polster. Nm ihn war ein Lärm,
der an den Nerven kratzte, ihnen wehe tat und sie dennoch stumps machte.
Das Eisen, vom Dampf durch diese blaukalte Frühe geschleift, johlte und
schrie. Die Fensterscheiben rasselten. Auf dem Dache des Wagens balgten
sich kreischend Geschöpfe der schwindenden Nacht, Ilntiere. Sie stampften,
daß die Decke dröhnend erzitterte. Auch unter dem Boden, zwischen den
Rädern und nahe den Schienen, hingen ihrer ein paar. Sie glotzten
auf die wirbelnden Schwellen dicht vor ihren Augen, brüllten, ohne nur
einmal Atem zu holen, und rissen den Wagen schaukelnd hin und her.

Da sagte jemand etwas. Es war wohl die Frau, dem Manne gegen-
über, die da sagte: die Sonne. Oder war das Wort durch etwas Feuriges,
das hinter seine geschlossenen Lider drang, in ihm selbst aufgestanden?

Es sah hinaus: Licht entzückte — bedrohte — verzauberte ihn.

Die Sonne? War sie es, die um ihren endlichen Aufstieg dort hinten
zu ringen hatte? War, was ungeheuer in wolkigen Massen glühte, schwer
und finster glühte — und nun langsam siegreich wurde und aufgehellten
Raum sich erkämpfte — war es die Sonne?

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