Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Hechberger, Werner; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Adel im fränkisch-deutschen Mittelalter: zur Anatomie eines Forschungsproblems — Mittelalter-Forschungen, Band 17: Ostfildern, 2005

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.34731#0072

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
68

Kapitel 1

Während die Kritik von Weitzel in erster Linie die Frage aufwarf, ob der Herr-
schaftsbegriff Brunners überhaupt dazu geeignet ist, mittelalterliche soziale Bezie-
hungen treffend zu beschreiben, kam eine völlig entgegengesetzte Kritik von Gadi
Algazi. Sie wurde auf der Grundlage einer Analyse der „Herrengewalt" im Spät-
mittelalter formuliert und zielte auf den ideologischen Hintergrund des Herr-
schaftsbegriffs. Nicht der Begriff wurde in Frage gestellt, sondern seine harmoni-
sierende Funktion im Rahmen des Gesamtkonzepts. Die Definition von Herrschaft
als Verhältnis von Gegenseitigkeit, als Ausübung von Schutz und Schirm, ver-
schleiere, daß es sich bei dieser Definition nur um eine mögliche Perspektive hand-
le. Anhand von spätmittelalterlichen Quellen versuchte Algazi nachzuweisen, daß
damit keineswegs die Sicht der der „Herrschaft" Unterworfenen getroffen ist.
Spätmittelalterliche Herrschaft über Bauern beruhte nicht auf Gegenseitigkeit.
Gewalt - ausgeübt, angedroht oder vorgestellt - spielte bei ihrer Etablierung und
Reproduktion eine zentrale Rolle^F Adlige Gewalt im Spätmittelalter sei als unko-
ordinierte Produktion sozialer Bedürfnisse zu verstehen, insbesondere sei so das
Bedürfnis nach Schutz durch die Herren geschaffen worden. Die Fehde sei dem-
nach das strategische Mittel des Adels zur Sicherung seiner Stellung. Sie habe
dazu gedient, sozialen Aufstieg zu behindern oder zu beschränken. Auch die
„quellengerechten" Begriffe Brunners können demnach eine bestimmte Ideologie
transportieren. Daß Algazis Arbeit nicht nur für die mittelalterliche Sozialge-
schichte, sondern auch für das Selbstverständnis der deutschen Mediävistik weg-
weisend sein könnte, ist mit Recht hervorgehoben worden^.
Zweifellos jedenfalls ist Gerhard Dilcher recht zu geben, der meinte, daß der
Herrschaftsbegriff eine klärungsbedürftige Geschichte habe und man kaum davon
ausgehen könne, daß es sich dabei um eine Fortschrittsgeschichte handleW Insge-
samt gesehen ist die neuere Mediävistik dem Herrschaftsbegriff gegenüber wieder
eher skeptisch geworden. Ohne weitere Einschränkung scheint er mehr Probleme
aufzuwerfen als zu lösen. Einen neuen Weg hat Bernd Schneidmüller gewiesen,
dessen Konzept von der „konsensualen Herrschaft" die Eigenheiten von „Herr-
schaft" im Mittelalter insgesamt auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen ver-
sucht. Schneidmüller bemüht sich darum, die konsensuale Bindung von Herr-
schaft als Grundlage alteuropäischer Ordnung zu begreifen und als Basis der
Reichsverfassung weit über das Mittelalter hinaus zu erweisen. Nicht zuletzt da-
raus resultiert ein erheblich positiveres Bild des spätmittelalterlichen Reichs trotz
oder gerade wegen der Schwäche der königlichen Herrschaft. Zeitgebunden ist
diese Betrachtungsweise, wie Schneidmüller selbst zugesteht, natürlich auch: „Das
neue Interesse an der genossenschaftlichen Ausgestaltung von Herrschaft - das sei

334 Vgl. ALGAZI, Herrengewalt, S. 224.
335 Vgl. M. TOCH, Rezension zu ALGAZI, Herrengewalt, in: DA 55,1999, S. 326.
336 Vgl. DlLCHER, Max Webers Stadt. Zum Herrschaftsbegriff vgl. heute umfassend W. POHL, Herr-
schaft, in: RGA 14, 1999, S. 443-457.
 
Annotationen