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Kapitel 12
Zusammenfassend wird man festhalten dürfen, daß sich die Geschichte der Er-
forschung des mittelalterlichen Adels als eine Geschichte sich wandelnder, von der
eigenen Gegenwart der Historiker beeinflußter Fragen beschreiben läßt, die mit
recht unterschiedlichen Theorien und Modellen beantwortet werden können. Die-
se Theorien und Modelle haben Folgen für die Begriffsbildung, die Interpretation
von Quellenbegriffen und entscheiden über das Verhältnis von Ausnahme- und
Regelfall historischer Phänomene. Ihre Plausibilität richtet sich nach den Gesamt-
bildern des Geschichtsverlaufs, die unmittelbar von der jeweiligen Gegenwart der
Historiker und von einer postulierten Zukunft abhängen. Die verschiedenen Ein-
zeluntersuchungen und Fallstudien sind daher nicht in eine einzige logisch konsi-
stente Gesamtdarstellung zu integrieren, die alle bisherigen Ergebnisse berück-
sichtigen könnte.
Diese Beobachtungen führen zu der pikanten Frage, ob man denn in der Medi-
ävistik von einem wissenschaftlichen Fortschritt sprechen kann. Zumindest
schwer zu bestreiten dürfte sein, daß praktische Wissenschaft nicht als linearer
Prozeß verstanden werden kann, in dem „immer mehr" und „immer Besseres"
über vergangene Wirklichkeit erkannt wird. Die oft radikalen Kurs- und Rich-
tungswechsel der geschichtswissenschaftlichen Praxis lassen zwei Deutungen zu.
Natürlich kann man eine fortschrittsoptimistische Sicht vertreten. Veränderte
Zeitumstände führen demnach dazu, daß der Blick frei wird auf die „eigentlich"
relevanten Zusammenhänge. Als eher skeptische Variante scheint die Annahme
denkbar, daß jede Form der Mediävistik ihr eigenes Mittelalterbild hat und nicht
nur von den Interessen der Gegenwart abhängige Fragen formuliert, sondern sich
auch an von der Gegenwart abhängigen Gesamtbildern orientiert, die einander
ablösen und nicht unbedingt wissenschaftliche „Fehler" aufweisen müssen. Her-
mann Bausingers Unterscheidung zwischen den vier Dimensionen Sache, Raum,
Aktoren und Funktion beim Kontinuitätsbegriff zeigt, warum verschiedene Bilder
und „Erzählungen" über die vergangene Wirklichkeit möglich sind. „Kontinuität"
ist ein durch und durch relativer Begrifft.
Geschichte als Darstellung ist also offensichtlich perspektivisch und selektiv.
Sie kann als eine Konstruktion verstanden werden, die auf einem Geschichtsbild
beruht, das die Annahme von Kontinuitäten und damit auch die Bildung jener
Begriffe beeinflußt, die den jeweiligen Untersuchungsgegenstand definieren. Diese
Feststellung ist nicht eben neu, doch sollte berücksichtigt werden, daß es sich da-
bei nicht nur um eine salvatorische Klausel handelt, die allenfalls in Vorworten
ihren angemessenen Platz finden kann. Offensichtlich wirken sich derartige Gren-
zen historischer Erkenntnis nicht zuletzt auch nachhaltig auf Untersuchungen aus,
die quellennäher gar nicht gedacht werden können. Analog dazu ist Wissen-
schaftsgeschichte keine reine Geschichte bisheriger Irrtümer oder unvollkomme-
82 Vgl. BAUSINGER, Algebra, S. 9-31.
Kapitel 12
Zusammenfassend wird man festhalten dürfen, daß sich die Geschichte der Er-
forschung des mittelalterlichen Adels als eine Geschichte sich wandelnder, von der
eigenen Gegenwart der Historiker beeinflußter Fragen beschreiben läßt, die mit
recht unterschiedlichen Theorien und Modellen beantwortet werden können. Die-
se Theorien und Modelle haben Folgen für die Begriffsbildung, die Interpretation
von Quellenbegriffen und entscheiden über das Verhältnis von Ausnahme- und
Regelfall historischer Phänomene. Ihre Plausibilität richtet sich nach den Gesamt-
bildern des Geschichtsverlaufs, die unmittelbar von der jeweiligen Gegenwart der
Historiker und von einer postulierten Zukunft abhängen. Die verschiedenen Ein-
zeluntersuchungen und Fallstudien sind daher nicht in eine einzige logisch konsi-
stente Gesamtdarstellung zu integrieren, die alle bisherigen Ergebnisse berück-
sichtigen könnte.
Diese Beobachtungen führen zu der pikanten Frage, ob man denn in der Medi-
ävistik von einem wissenschaftlichen Fortschritt sprechen kann. Zumindest
schwer zu bestreiten dürfte sein, daß praktische Wissenschaft nicht als linearer
Prozeß verstanden werden kann, in dem „immer mehr" und „immer Besseres"
über vergangene Wirklichkeit erkannt wird. Die oft radikalen Kurs- und Rich-
tungswechsel der geschichtswissenschaftlichen Praxis lassen zwei Deutungen zu.
Natürlich kann man eine fortschrittsoptimistische Sicht vertreten. Veränderte
Zeitumstände führen demnach dazu, daß der Blick frei wird auf die „eigentlich"
relevanten Zusammenhänge. Als eher skeptische Variante scheint die Annahme
denkbar, daß jede Form der Mediävistik ihr eigenes Mittelalterbild hat und nicht
nur von den Interessen der Gegenwart abhängige Fragen formuliert, sondern sich
auch an von der Gegenwart abhängigen Gesamtbildern orientiert, die einander
ablösen und nicht unbedingt wissenschaftliche „Fehler" aufweisen müssen. Her-
mann Bausingers Unterscheidung zwischen den vier Dimensionen Sache, Raum,
Aktoren und Funktion beim Kontinuitätsbegriff zeigt, warum verschiedene Bilder
und „Erzählungen" über die vergangene Wirklichkeit möglich sind. „Kontinuität"
ist ein durch und durch relativer Begrifft.
Geschichte als Darstellung ist also offensichtlich perspektivisch und selektiv.
Sie kann als eine Konstruktion verstanden werden, die auf einem Geschichtsbild
beruht, das die Annahme von Kontinuitäten und damit auch die Bildung jener
Begriffe beeinflußt, die den jeweiligen Untersuchungsgegenstand definieren. Diese
Feststellung ist nicht eben neu, doch sollte berücksichtigt werden, daß es sich da-
bei nicht nur um eine salvatorische Klausel handelt, die allenfalls in Vorworten
ihren angemessenen Platz finden kann. Offensichtlich wirken sich derartige Gren-
zen historischer Erkenntnis nicht zuletzt auch nachhaltig auf Untersuchungen aus,
die quellennäher gar nicht gedacht werden können. Analog dazu ist Wissen-
schaftsgeschichte keine reine Geschichte bisheriger Irrtümer oder unvollkomme-
82 Vgl. BAUSINGER, Algebra, S. 9-31.