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Monatsberichte über Kunst und Kunstwissenschaft — 3.1903

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Seydlitz, Reinhard von: Nietzsche und die bildende Kunst, 2
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https://doi.org/10.11588/diglit.47725#0101

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— 81

sich halten, um dazu nicht zu rufen: Nein, Gott
sei Dank nicht! Und ganz besonders nicht das
stärkste künstlerische Vermögen, welches wir Genie
nennen, und dem Nietzsche auch ein Fragezeichen
anhängt. Das Genie, meint er, unterscheide sich
vom geringem produktiven Menschen nur durch
die Intensität seines Fleisses, seines kombinato-
rischen Ernstes, seiner unermüdlichen Selbstkritik,
kurz, durch den „tüchtigen Handwerkerernst".
Hierin hat er Recht, wenn auch mit diesen Be-
dingungen nicht alles erschöpft ist, was ein Genie
ausmacht: es fehlt in der Rechnung noch der starke
Glaube an sich und seinen Stern — ein Glaube,
den Nietzsche selbst als Gift fürs Genie bezeichnet,
und dies am Beispiel Napoleons erläutert. Wie
sich aber gerade durch diesen Glauben (im Verein
mit jenem „Fleiss“) das Genie die Wege zum Er-
folg ebnet, ja seine eigenen Kunstrichter erzieht,
zeigt er uns bald darauf (S. 177). —
„Die Formen eines Kunstwerks haben immer
etwas Lässliches — der Bildhauer kann (an seinem
Werk) viele kleine Züge hinzuthun oderweglassen.“
So meint er zu beweisen, dass „das Notwendige
am Kunstwerk“ eine Uebertreibung sei. Zuletzt
aber wird doch die selbstkritische Thätigkeit des
Künstlers meist immer an einem Ende anlangen,
wo das Werk mit der Bezeichnung „sit ut est“
aus dem Atelier entlassen wird. Und dieses Siegel,
dieser Freibrief des Schöpfers muss an dem Werk
unter allen Umständen geachtet werden. Das über-
sieht Nietzsche völlig, und gerät darum auch auf
die Idee, mit Weitermodellieren und Verbessern
könne auch wohl ein späterkommender Künstler
dem Werke nachhelfen, ja aus einer Skizze des
frühem Meisters ein fertiges Werk machen. Insofern
dabei das Original bestehen bleibt, mag ja jeder
an solcher Arbeit sich versuchen auf eigene Rech-
nung und Gefahr; aber konsequenterweise müsste
es deswegen auch gestattet sein, einem Maler
nachträglich ins Bild hineinzumalen — was leider
oft geschehen ist und wogegen heute mit grimmiger
Energie gekämpft wird; denn wer will da zwischen
Verbesserung und Verballhornung eine Grenze
ziehen? Wer könnte es wagen, dafür Richter zu
wählen, wer möchte das Odium auf sich nehmen,
da Richter zu sein? Wo schon ohnediess pul-
chrum est paucorum hominum?
Recht durchdrungen von dem Einfluss seines
damaligen Freundes Dr. Paul Ree ist besonders
alles, was Nietzsche im zweiten Teile „Menschliches,
Allzumenschliches“ über Kunst uns zu sagen weiss.
Dieser „Reealismus“, wie er seitdem oft und von
mehreren genannt (und auch geleugnet) worden
ist, tritt besonders zu Tage in dem Abschnitt über
die „Ursprünge des Geschmackes an Kunstwerken“
(W., III, S. 66 ff.). Hier werden uns, von den An-
fängen aller Kunst an, eine Reihe von Arten und
Phasen des Gefallens an künstlerischem Schaffen
aufgezählt. Ich muss sie notgedrungen hier so
kurz als möglich wiederholen, um meine „Ant-
wort“ verständlich zu machen. — Zunächst, bei
wilden Völkern z. B., hat die Freude an den primi-
tiven Kunstäusserungen ihren Grund in einer Art
Rätselspiel: man versucht zu verstehen, was der

Künstler gemeint hat. Zugegeben, für die rohen
Erstlinge der Zeichnen- und Malkunst, auf Knochen
und Höhlenwänden, selbst noch für prähistorische
Fundschichten aus Hissarlik. — Aber wie stehts
mit den damals unzweifelhaft schon ertönenden
Helden-, Liebes- und Totengesängen? Mussten diese
auch erst erraten werden? War eine Totenklage,
ein Rudergesang oder der damals sicher wie heute
über die Viehweiden hin ertönende „Juchzer“, dieses
Ei aller bucolica, nicht ohne weiteres, ja vielleicht
besser als Rede, verständlich? — Als zweite, dritte
und vierte Stufe nennt Nietzsche: Die Freude der
Erinnerung an Angenehmes, z. B. Jagd, Sieg, Hoch-
zeit — oder auch an überstandenes Unangenehmes;
oder endlich Freude an der Verherrlichung von
Rache und Gefahr. Dies sei dann als Sieg über
Langeweile „der Kunst zu Gute zu rechnen“. An-
genommen, dass sich jene Urzeitmenschen, ja selbst
die der älteren historischen Perioden, bei Abwesen-
heit von Gefahr und Not stets furchtbar gelang-
weilt haben (es ist sehr die Frage, ob ihr unent-
wickelter Intellekt nicht diese Ruhezeiten zur Er-
holung brauchte - auch der Intellekt braucht zeit-
weise Schlaf!) — so wäre hier ein recht bescheidener
Grund für die Kunstübung jener Zeit, ein so niederer
und schwacher Antrieb, dass er nicht vermocht
hätte jene enormen Anstrengungen ins Rollen
zu bringen, die das Schaffen primitiver Kunstwerke
unter damaligen Umständen verlangte: Denn jene
Urkünstler hatten es schwerer ihre Kritzeleien zu-
stande zu bringen, als Rafael die Sixtina zu malen.
Nein, es war eben der Kunsttrieb, der Zwang zu
schaffen, derselbe Trieb der sich schon bei Tieren
findet. Aber von einem Trieb hört Nietzsche nicht
gern reden, wenn es nicht etwa der der Eitelkeit
ist; letztere war ihm damals, nach Rees Vorbild,
der Hauptschlüssel und Geheimdieterich zum innern
Menschen.
Eine höhere Stufe und Art der Kunstfreude
erblickt er ferner in der Wirkung des Symmetrischen.
Unzweifelhaft ist aber der Drang nach Sym-
metrie schon mit den ersten Kunstversuchen ent-
standen, hat sich vielleicht nur später erst durch-
setzen können. Es wird durch Symmetrie, meint
er, die Empfindung für alles Geordnete und Regel-
mässige wachgerufen — „dem man ja ganz allein
alles Wohlbefinden zu danken hat.“ Ist das wahr?
Ganz allein alles? Sagt uns das der Nietzsche, dem
wir die wundervolle Gegenüberstellung der dio-
nysischen und der apollinischen Kunst verdanken,
— dachte er jetzt nur an die letztere? Fast scheint
es als ob ihm beim Weiterschreiben der vergessene
Dionysos eingefallen wäre; denn er führt als letzten,
d. h. höchsten Ursprung des Geschmackes an Kunst-
werken den Umstand an, dass man durch Ueber-
sättigung mit Symmetrie auch dazu gelangen könne
am Durchbrechen dieser Genuss zu finden; man
suche dann z. B Vernunft in der scheinbaren Un-
vernunft, sodass hierbei wieder, wie auf der unter-
sten Stufe eine Art Rätselratens, nur diesmal eines
ästhetischen Rätsels, stattfinde.
Und hiermit sind ihm die Rätsel, schön ge-
ordnet, ja sogar historisch geschichtet — gelöst,
die ihm die Freude der Menschen an der Kunst
 
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