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Monatsberichte über Kunst und Kunstwissenschaft — 3.1903

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Seydlitz, Reinhard von: Nietzsche und die bildende Kunst, 2
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https://doi.org/10.11588/diglit.47725#0102

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82

boten! Flacher hat wohl noch kein so tiefer und
hoher Geist über Kunst geurteilt. Welches arm-
selige Ragout! Nein, der Mensch braucht, fast so
nötig wie Luft und Licht, Wasser und Brot, jeden-
falls sofort nach Erlangung dieser, — Erregung, er
will Schönes sehen, Grosses empfinden, Grausiges
fühlen, Tragisches beklagen oder Heiteres belachen;
und der Künstler seinerseits will nichts als schaffen,
schaffen und schaffen, ohne sich zu bekümmern,
ob er sein Publikum damit erhebt, veredelt, ob er
Lohn und Ehre dafür einheimst oder nicht. So
der wahre Künstler, und so das wahre Publikum.
Was im Laufe der Zeit, unterm Einfluss verschiedener
Grade und Arten der Kultur, an diesem Bilde sich ge-
ändert haben mag, ist von aussen eingedrungenes
fremdes Element: so der Archaismus und Dogma-
tismus in der religiösen Kunst, die Rücksicht auf Staats-
wohl und — Knopflöcher in Monarchien u. dgl. m.
Beispiele hierfür wären überflüssig, wenn nicht
Nietzsche (a. a. 0., S. 69) selbst ein solches herbei-
zöge, freilich um es falsch zu erklären. „Die
Angst der Künstler, dass man ihren Figuren Leben
absprechen möchte“ (— beiläufig, ein wahrer
Künstler kennt diese Angst nicht!) brachte sie dazu,
selbst Sterbenden jenes Lächeln zu geben „welches
sie“ (die Künstler) „als lebhaftes Zeichen des Lebens
kannten“. Das Lächeln der Aegineten z. B. ist
nun bekanntlich in keiner Weise vom Lächeln einer
ägyptischen Königsstatue oder des Sphinx von Gizeh
verschieden; es ist eben nichts als ein rein for-

maler Ausdruck für den Sieg über den Tod, das
Lächeln des unsterblich- oder Gottgewordenen;
hübsch, d. h. unwahr, hat man es mit dem schein-
baren Lächeln der Leichen verglichen.
Was nun Auswahl und Erlaubtheit von Kunst-
mitteln im allgemeinen anlangt, so bietet uns
Nietzsche (a. a. 0., S. 68) ein vorzügliches Beispiel
wie gut er in der Künstlerseele zu Hause sein kann.
Er weist auf die Verwendung von Rohheit und von
Schwäche hin, — beides Eigenschaften, die (als
Surrogat für Kraft und Zartheit) stark auf das Ge-
fühl zu wirken pflegen; dem gewissenhaftesten
Künstler sollten sie aber verwerflich dünken. Ach
ja! Aber mit dem Gewissenhaftsein des Künstlers
ists ein eigenes Ding; Goethe sagt einmal: Der
Handelnde ist immer gewissenlos; es hat Niemand
Gewissen als der Betrachtende. Der Schaffende also,
insofern er eben „schafft“, überlässt die Gewissens-
regungen ganz mit Recht dem Betrachtenden, d. h.
dem — selbstkritischen Künstler; da aber beide in
einer Haut stecken, wird oft das Kompromiss ein-
treten, welches die Sache unentschieden, das Werk
im höchsten Sinne unvollendet lässt. Für das Werk
dann eine Partei von Fanatikern sich begeistern
zu sehen, tröstet den Meister nur halb; denn er
wird wohl oder übel Nietzsche zustimmen, der sie
gut und grob dahin charakterisiert, sie seien die eigent-
lich Unkünstlerischen, nur von den elementaren
Wirkungen des Werks Ergriffenen, für die es kein
ästhetisches Gewissen gibt (a. a. 0., S. 73).
(Fortsetzung folgt.)


= Die Bibliographie und Zeitschriftenrundschau musste wegen Raummangel in diesem Hefte wegfallen. -
 
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