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Monatsberichte über Kunst und Kunstwissenschaft — 3.1903

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Wolf, Georg Jacob: [Rezension von: Georg Hirth (Hrsg.), Der Stil in den bildenden Künsten und Gewerben aller Zeiten, 2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.47725#0289

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der Glieder, die ebenmässige Schönheit des Körpers,
wenn die Schönheit des Geistes mangelt? Ich habe
früher schon dargetan, dass Schönheit, vollkommene
Schönheit nichts weiter ist, als Harmonie von Körper
und Geist. Und da, glaube ich, kann sich besonders
die Renaissance sehr wohl neben der Antike sehen
lassen. Meint doch Weese selber: „Uebersehen wir
den Wechsel der Auffassung und die mannigfaltige
Behandlung des menschlichen Körpers in der
neueren Kunst, so ist kein Zweifel, dass sie an
Reichtum der Typen der Antike überlegen ist, schon
deshalb, weil sie auch ein anderes als das bloss
plastisch-statuarische Ideal kennt.“
Wenden wir uns nun der Betrachtung der uns
vorgeführten Werke zu, so werden wir diesen
Reichtum der Typen, diese Fülle von Formen
durchaus bestätigt finden.
Jene Kunstepochen, für die die menschliche
Gestalt nur den Wert eines Symbols hatte, hat
Dr. Weese ganz aus dem Spiel gelassen. Und mit
Recht. Was hat der asketische Geist altchristlicher
Kunst mit dem schönen nackten Menschen zu tun?
Nicht anders ist es mit der byzantinisch-romanischen
Kunst des frühen Mittelalters. Mag sie immerhin,
speziell in Glasmalerei, in Mosaikarbeiten und
besonders in den kunstvollen Miniaturen, ganz
Glänzendes geleistet haben, für die Beobachtung
des schönen Menschen fehlte ihr aller Sinn.
Erst im 12. Jahrhundert beginnt eigentlich das
Thema, und zwar hat sich Dr. Weese anfangs
hauptsächlich an die Plastik halten müssen.
Erstaunlich ist, dass auf den 32 Tafeln, in denen
das Mittelalter behandelt ist, sich nur so sehr
wenige „nackte Schönheiten“ finden, fast alle diese
Gestalten sind in faltenreiche Mäntel gehüllt, und
wir müssen uns mit einem mehr oder minder
schönen Gesicht zufrieden geben. Immerhin freuen
wir uns, dass uns eine Reihe dieser zierlichen
gotischen Gestalten vorgeführt wird.
Mit einer Serie mittelalterlicher französischer
Steinskulpturen, hauptsächlich von der Kathedrale
zu Reims, wird der Band eröffnet, dazwischen fehlt
aber auch nicht deutsche romanische Stein- und
Holzskulptur vom Bamberger Dom und der Wechsel-
burger Klosterkirche, was zu fruchtbaren Vergleichen
anregt. Dass Dr. Weese besonders die Bamberger
Domskulpturen in den Kreis seiner Betrachtungen
zieht, und dass er uns darüber in den knappen
textlichen Anmerkungen interessante Aufklärungen
zu geben weiss, lässt sich nach seinen beiden vor-
züglichen Arbeiten über den Bamberger Dom1)
wohl nicht anders erwarten. Aber auch die Aus-
wahl der Werke französischer Plastik verrät den
feinen, geschmackvollen Kenner. Von einer geradezu
überraschenden Wirkung ist die Gegenüberstellung
der Steinskulptur französischer und deutscher Früh-
gotik. Nehmen wir zu diesem Zweck zwei vor-
zügliche Werke, den Kopf des Verkündigungs-
engels vom Mittelportal der Kathedrale zu Reims
(Tafel 6) und den Kopf der Reiterfigur König
Stefans des Heiligen (auch als Kaiser Konrad III.
bekannt) von dem Pfeiler des Georgenchores im
1) Arthur Weese, Die Bamberger Domskulpturen, Strassburg i. Els.,
1897. Aufleger — Weese, Der Dom zu Bamberg, München, 1898.

Bamberger Dom (Tafel 16, 17). Welche Beherrschung
der Form bei beiden Werken, welche tiefe, rassige
Charakterisierung! Das zarte Köpfchen des Ver-
kündigungsengels, ein überaus bezeichnendes Werk
für das französische frühgotische Ideal, geht mehr
in die Breite, wirkt durch eine eigenartige Flächen-
behandlung, der Kopf des Bamberger Stefan da-
gegen wirkt mehr durch die Tiefe, durch die mehr
individuelle als typische Behandlung. Man weiss
in der Tat nicht, welchem der Werke man den
Vorzug geben soll. Jedes besitzt seine eigenen
Reize, über dem einen liegt der sonnige Ernst, die
heitere, zufriedene Stille, die poetische Anmut zarter
provencalischer Lieder, das andere ist voll männ-
licher Kraft, voll Trotz und Stärke und doch aus
den Augen, die träumerisch ins Weite blicken,
spricht eine Parzivalnatur, „das Zeitalter der Kreuz-
züge und die Poesie Wolframs von Eschenbach ist
hier Fleisch und Blut geworden“.
Weniger poetisch, vielmehr Zeugnisse einer
schlichten, kernigen Handwerksmässigkeit im guten
Sinne, sind die urwüchsig-derben Stifterstatuen am
Naumburger Dom (Tafeln 19—23). Sie spiegeln
im Gegensatz zu den vergeistigten Idealwerken
am Bamberger Dom ein porträtgetreues, kultur-
und geistesgeschichtlich interessantes Bild streit-
baren, niederdeutschen Rittertums. Gesunde,
nüchterne Menschen, gereiftere Männer von ge-
drungenen Proportionen, züchtige, schlanke Frauen,
ganz in faltenreichen Gewändern verhüllt — stille,
leidenschaftslose Gesichter, ebenmässig, mit einem
leisen Stich ins Langweilig-Gleichgiltige. Plastisch
sind die Arbeiten von hervorragender künstlerischer
Bedeutung, sie gehören zu den vorzüglichsten
Denkmalen der frühmittelalterlichen Kunst in
Deutschland *)
Höchst eigenartig wirkt eine Gruppe Adam
und Eva aus dem Relief des jüngsten Gerichtes an
der Fassade der Kathedralkirche zu Bourges (Tafel
24), eine anziehende Steinskulptur, die etwa aus
dem Jahre 1270 stammen mag. Weniger des
künstlerischen Wertes halber (es handelt sich bloss
um eine ziemlich oberflächliche Arbeit, die Anatomie
ist herzlich schlecht verstanden, wenn auch die
Technik eine gewisse weiche und geschmeidige
Art zeigt), als wegen des Umstandes, dass man in
dieser starren, ausschliesslich kirchlichen Kunst sich
das Nackte wahrhaft nackt darzustellen getraut,
scheint es mir am Platze, dass man an diesem
isoliert dastehenden Werk nicht ganz achtlos vorbei-
schreitet. — Sind uns die Gestalten der Naumburger
Stifter gedrungsn und untersetzt erschienen, so
zeigt sich in den Statuen der Kirche und der
Synagoge am Strassburger Münster (Tafel 25), die
wie jene aus dem 13. Jahrhundert stammen, das
symptomatische Streben der Gotik nach über-
treibender Schlankheit. Aber diese aufgeschossenen
Gestalten verletzen unser ästhetisches Gefühl in
keiner Weise, im Gegenteil, die gute Zeit der
Gotik stattete diese Figuren mit ganz eigenartiger
Grazie und einer herben Anmut aus, die namentlich
in den beiden uns hier gezeigten jungfräulichen
1) Cfr. Schmarsow-Flottwell, Die Bildwerke des Naumburger Dom es
Magdeburg, 1892.

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