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Monatsberichte über Kunst und Kunstwissenschaft — 3.1903

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Wolf, Georg Jacob: [Rezension von: Georg Hirth (Hrsg.), Der Stil in den bildenden Künsten und Gewerben aller Zeiten, 2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.47725#0290

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238

Gestalten zu einer reizenden Pikanterie sich weiter-
bildet.
Mit Niccolo und Giovanni Pisano wird uns
die plastische Kunst der italienischen Vorrenaissance
in altbewährten Beispielen vorgeführt, mit Giottos
Chor der Seligen aus der Kapelle dell’ Arena zu
Padua, mit Simone Martini und Ambrogio Loren-
zetti (die verlockende, anmutig hingestreckte Frauen-
gestalt der „Pax“ zu Siena — auf Tat. 30 —)
schliesst sich die gleichzeitige italienische Malerei
an, während uns als höchste Blüte niederdeutscher
mittelalterlicher Malerei des Meister Wilhelm von
Köln „Madonna mit der Erbsenblüte“ im Germa-
nischen Museum zu Nürnberg (Taf. 32) vor die
Augen gestellt wird. Diese Madonna ist so recht
der Ausdruck jenes Marientypus voll poetischer
Schwärmerei, voll Herzenseinfalt und Innerlichkeit
und von jenem ungesuchten Reiz, den, wie Weese
richtig bemerkt, selbst Raffael, diese grosse, reine
Kinderseele, in solcher Ursprünglichkeit kaum mehr
erreichte.
An die Spitze der Renaissance stellt Dr. Weese
die Brüder van Eyck Für jene, welche etwa zweifeln
wollen, ob ein solches Vordrängen der nieder-
ländischen Meister mit Fug und Recht geschehen kann,
hat Weese diese Worte geschrieben: „Jan van Eyck
ist im germanischen Norden der führende Meister,
der die Kunst aus dem scholastischen Banne in
die freie frische Luft der wirklichen Welt geleitet.
Die Italiener nannten diese Bewegung eine Renais-
sance, eine Wiedergeburt. Ebenso ist auch der
Meister des Genter Altares als ein Reformator an-
zusehen, der einem Masaccio und Donatello zeitlich
und künstlerisch ebenbürtig und gleichberechtigt
zur Seite steht, nur als Vertreter einer anderen
Rasse und anderen Weltanschauung.“ Das Eine der
Beispiele, die uns von der Kunst der Brüder van Eyck
vorgeführt werden, die singenden Engel vom Genter
Altar, ca. 1425 (Taf. 33) ist freilich nichts weniger
als ein Renaissancewerk; diese Engel gehören noch
ganz der gotisch-scholastischen Richtung an, sie
sind gleichgiltige, unpersönliche Wesen, Beiwerk,
geistlose Manufaktur. Besser ist es schon mit den
Figuren Adam und Eva (Taf. 34), gleichfalls vom
Genter Altar. Diese beiden Gestalten in ihrer gött-
lichen Nacktheit haben ihre feste und tiefe Bedeutung
in der Geschichte der nordischen Malerei. Oder
sollte es nicht tief bezeichnend sein, dass man in
dem ersten Hauptwerk germanischer Renaissance-
kunst gleich allen Ernstes daran geht, das Nackte
zu studieren? Die menschliche Figur war bisher
nichts weiter gewesen als ein willkommenes Gerüst
für mehr oder minder reich zu drappierende Falten-
würfe, und man war sich ganz und gar nicht mehr
bewusst, dass unter dem Gewände überhaupt noch
ein Körper steckte. In der Regel kümmerte sich
der Bildhauer oder Maler überhaupt nicht weiter
um die körperliche Anatomie, und einer schönen
Falte zu Liebe opferte er gerne eine Hüfte oder
einen Beckenknochen. Der bekleidete Mensch hatte
den nackten besiegt, das Kleid war zur Kunst ge-
worden, das Kleid ist ein wichtigerer Faktor als
der Körper. Da kommen die Eycks, und mit ihrer
grossen Wahrheitsliebe, mit ihrem überschwäng-

ÜchenRealismus zeichnen siediesesnackteMenschen-
paar. Es sind nicht eben schöne Menschen, die
sie da als Modelle, ausgewählt haben, und die sie
mit ebensoviel künstlerischem Ernst als technischer
Vollkommenheit festhalten, aber es sind wahre und
echte Menschen. Und für den Meister, der den
Genter Altar geschaffen hat, hiess Schönheit nichts
anderes als Wahrheit. „Die nackte Wahrheit steht
hier vor uns.“ Der Mann mager, sehnig, durch
Arbeit gedrückt und gestählt, aber nicht ausge-
glichen und veredelt, das Weib „mit den kleinen,
hängenden Brüsten und dem aufgetriebenen Leib,
als Mutter der Menschheit hingestellt, macht es ver-
ständlich, dass in ihrer zahlreichen Nachkommen-
schaft der schöne Mensch nur selten gesehen wurde.“
Diese eckigen, mageren Menschen, denen auch die
seelische Tiefe fehlt, waren van Eycks Modelle, und
diese nämlichen Modelle sind trotz allem „die ersten
Menschen der neueren Kunst“.
Mehr in Kleinigkeiten eingehend, aber jedes
Blickes für das Grosse und Ganze entbehrend, im
Uebrigen ein geschickter Nachahmer Jan van Eycks
— so möchte man Hugo van der Goes (f 1482)
charakterisieren. So wie sich der Künstler zu Jan
van Eyck stellt, so stellt sich seine Darstellung von
Adam und Eva (Taf. 35) zu der des Genter Altars.
Wie ganz anders weiss da Hans Memling das erste
Menschenpaar aufzufassen auf seinem Wiener Adam-
und Evabild (Taf. 36). Wenn man auch hier noch
nicht von idealer Schönheit reden kann, so doch
von Anmut, von Zierlichkeit bei dem weiblichen
Akt, von mildem Ernst bei dem männlichen. Wenn
das auch noch keine vollendete Schönheit ist, so
hat es doch wenigstens aufgehört, herausfordernde
Hässlichkeit zu sein.
In eine andere Welt führt uns die Vertreibung
aus dem Paradies von Masaccio (1401 —1428), Fresko
in S. Maria del Carmine zu Florenz (Taf. 37).
„Kein grösserer Kontrast als dieser zwischen der
feinen und mühseligen Oelfarbentechnik der Nieder-
länder und der energischen, auf starke Wirkungen
berechneten Monumentalität des italienischen Wand-
malers. Mit der Technik ändert sich sofort auch
die geistige Verarbeitung des Stoffes. Die schwer-
flüssige Beharrlichkeit und handwerkliche Solidität
der Niederdeutschen bleibt bewundernswert, je mehr
man in die Tiefe und die Einzelheiten des Werkes
vordringt. Bei Masaccio springt der Kern der Sache
sofort in die Augen. Er reisst durch sein Pathos
hin. Nicht mehr die müden Modelle und ver-
schämten Aktfiguren treten auf. Bewegung von
innen nach aussen, dramatische Haltung, ein lautes,
heftiges Temperament.“
Wieder ganz anders wirken Luka Signorellis
(1441 —1523) Adam und Eva — aus den Fresken
in der Capella San Brizio im Dom zu Orvieto —
(Taf. 38) auf uns. Hier haben wir es mit herku-
lischen Gestalten zu tun, wie sie später Michel-
angelo in der Sixtinischen Kapelle so gern in seinen
Propheten- und Sibyllenfiguren an die Decke malt.
Aber diese wahrhaft heroischen Gestalten wirken
nicht plump, Signorelli versteht es in der Tat,
seinen Gestalten eine gewisse spielende Grazie zu
geben.
 
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