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Monatsberichte über Kunst und Kunstwissenschaft — 3.1903

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Escherich, Mela: Kunst als Offenbarung der Natur, 1
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https://doi.org/10.11588/diglit.47725#0340

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270

Kunst als Offenbarung der Natur.
Von M. Escherich.

Es wird in unsern Tagen viel über das Wesen
der Kunst gesprochen, über ihr Verhältnis zur Natur.
Es wird gegen die Anschauung gekämpft, dass
Kunst Naturnachahmung sei. Es wird gesagt, Kunst
sei eine Sache für sich, deren Zweck nicht Not-
wendigkeit, sondern Lust, Erregung von Lust-
empfindungen sei.
Wider das erstere spricht die Anschauung der
geistig so ausserordentlich hoch stehenden Epoche,
welche wir Renaissance nennen, jener Epoche, in
der die Aussprüche der bedeutendsten Künstler
und Kunstverständigen die Notwendigkeit der
Naturwahrheit in der Kunst betonten. Wider das
letztere spricht die Anerkennung und Bevorzugung,
welche die Architektur vor den andern Künsten
geniesst, obwohl gerade sie diejenige ist, die am
meisten der Notwendigkeit dient.
Ueber Zweck, Notwendigkeit, Naturwahrheit,
mit einem Worte über das Wesen der Kunst werden
die Meinungen ewig gegeneinander stehen, solange
wir uns nicht eingehender mit dem Wesen der
Natur beschäftigen. Nicht der uns umgebenden,
sondern unsrer eignen.
Aus Menschenwillen und Können ist die Kunst
hervorgegangen, ist somit ein Teil unsrer selbst.
Erst wenn wir sie vom entwicklungsgeschichtlichen
Standpunkt der Menschheit aus betrachten, können
wir sie verstehen.

Kunst ist Empfindungsäusserung. Sie hat da-
her allein mit uns zu tun, nichts mit unsrer Um-
gebung. Sie stellt die Dinge nicht dar wie sie
sind, sondern wie wir sie empfinden. Darum liegt
aber eben und einzig darin die Naturwahrheit.
Die Wahrheit, nur mit dem Unterschiede, dass sie
nicht auf der Wiedergabe der uns umgebenden,
sondern unsrer eignen innersten Natur beruht.
Sonst wäre alle Phantasie, alles Traum werk, alle
die entzückende Gestaltung rein erfundener Wesen
wie der Putten, Engel, Teufel, Satyrn — alles barer
Unsinn und keine Kunst!
Das erfundene oder vielmehr innerlich geschaute
ist aber tatsächlich die grössere Kunst als das
direkt der Wirklichkeit nachgeahmte, das mit den
äusseren Augen gesehene.
Die Natur wechselt nicht; wohl aber die mensch-
liche Auffassung von ihr. Aus gemeinsam einheit-
licher Auffassung, die eine Spanne Zeit anhält,
wächst dann das heraus, was man Stil nennt.
Es ist wiederum nur die Umsetzung des leib-
lich geschauten ins geistig empfundene. Das, was

wir gemeinhin unter Natur verstehen, ist jenes
grosse lebendige System, innerhalb dessen eine
Anzahl kleiner Lebenssysteme existieren, eines von
diesen ist jener Organismus, den wir Menschheit
nennen. So gross er nun für sich ist, so bleibt
er dem ganzen gegenüber doch nur ein Detail.
Wieviel mehr erst das einzelne Lebewesen zu seinem
Organismus, also der Mensch zur Menschheit!
Das Ringen des menschlichen Geistes aber
geht seltsamerweise darauf, sich nicht in der unter-
geordneten Empfindung des Details zu bescheiden,
er sucht das ganze zu ergründen und darum selbst
ganzes zu sein.
Tausendmal gerät er an die Grenze seines
geistigen Könnens, sieht die Unmöglichkeit des
Weitergelangens und tausendmal wagt er wieder
aufs neue den Versuch, doch weiter zu gehen. Das
ist die Tragödie des Menschen. Nicht Wissen-
schaft, nicht Unwissenheit gibt dem Suchenden
Frieden. Da öffnet sich dem einsam Irrenden in
stiller Stunde die Wunderblume des Menschen-
geistes — die Kunst.
Der Künstler entäussert sich schaffend seiner
kleinen Detailpersönlichkeit. Sein Geist, seine Hand,
sein ganzes Wesen wird zum Medium, durch das
die Menschheitsseele spricht. Daher das Zusammen-
klingen der einzelnen Seelen im Genuss der Kunst.
In einem Lied, in der Poesie gesprochenen Wortes,
im Anblick einer Gestalt von Phidias oder Michel-
angelo einen sich hunderte von Menschen zu einer
Empfindung. Wer hätte nicht schon den Augen-
blick schauernder, atemloser Spannung erlebt in
einer schauenden oder lauschenden Menge zu stehen
und plötzlich das Zusammenfliessen aller Einzel-
gedanken und Gefühle auf einen bannenden Punkt
zu empfinden ! Ist es nicht, als ob von Haupt zu
Haupt Flamme um Flamme springen würde, sich
plötzlich zu einer Lohe einend und aufschlagend?
Zu solcher Harmonie auch nur einen Augen-
blick, einen ewig schönen, unvergesslichen Augen-
blick die armen, in dummen, kleinen Alltäglichkeiten
verstrickten Seelen zusammenzuführen — das ist
Kunst.
Man sagt von ihr: Sie gehe zu Herzen, wenn
sie von Herzen komme.
Das ist wahr. Sie entsteigt aphroditisch dem
grossen Herzen der Menschheit, dessen Pochen
das Wellenrauschen des Lebens ist, und kehrt
wieder zu ihm zurück.
 
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