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Monatsberichte über Kunstwissenschaft und Kunsthandel — 2.1902

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Nr. 1
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Stettner, Thomas: Der Pranger: eine Original-Lithographie von Auguste B. Glaize
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Der Pranger.
Eine Original-Lithographie von Auguste B. Glaize.
Von Th. Stettiner. .

„Propheta nihil in patria.“ Die Wahrheit dieses
Spruches hat auch die Lithographie in ihrem
Heimatlande erfahren. Nach einer kurzen Zeit der
Begeisterung für sie: wandte sich die Mehrzahl der
schaffenden Künstler in Deutschland von ihr ab
und wies ihr nur die Aschenbrödelarbeit der Ver-
vielfältigung fremder Werke zu; so sank sie zum
Handwerk herab, und die Zeit ist nicht allzulange
vergangen, wo der Name „Lithograph“ in Künstler-
kreisen wie ein Schimpfwort klang.

Ganz anders in Frankreich. Sie war spät
dahin gelangt, aber vom ersten Tag an ruhte sie
in der Hand tüchtiger, für die neue Kunst be-
geisterter Künstler, die mit ganzem Können das
feinste Verständnis für die technischen Probleme
dieser Kunst vereinigten und einen unermüdlichen
Ehrgeiz darein setzten, ihre Ausdrucksmittel zu
vervollkommnen und sie zu immer neuen Aufgaben
fähig zu machen.

Sie erschauten in ihr das bequemste und zu-
gleich treueste Hilismittel, ihre leichten Entwürfe
wiederzugeben. Die rasche und leichte Art der
Herstellung, die in Deutschland zum handswerks-
mässigen Betrieb verführte, machte sie zu einer
iurchtbaren Waffe in den politischen Kämpfen der
Zeit Karls X: und Louis Philipps, und die in jener
Zeit erreichte Höhe der Karikatur wäre undenkbar
ohne sie. Aber auch für die Sittenschilderung der
nämlichen Zeit ist das flüchtig hingeworfene litho-
graphische Bild eine Quelle von unvergleichlicher
Frische und Wahrheit, kurz: die Pflege der Litho-
graphie hat Frankreich den reichsten künstlerischen
und materiellen Nutzen gebracht. Die veränderten
Verhältnisse unter dem zweiten Kaiserreich hatten
auch in Frankreich den Niedergang der Lithographie
zur Folge. Dass aber auch jetzt noch Werke ge-
schaffen werden, die den besten der grossen Zeit
vergleichbar sind, dafür möge OGlaizes!) Ilitho-
graphisches Blatt „Der Pranger“ Beweis sein.

Das Motiv dazu hatte er zuerst in einem
Oelbild behandelt, das auf der allgemeinen Aus-
Stellung zu Paris 1855 den tiefsten Eindruck
machte. Man fühlte in ihm das Wehen einer neuen
Zeit. Ueber den historischen Wert und den philo-
sophischen Gehalt dieses Bildes wurde allenthalben
disputiert, und es trug dem Künstler die reichsten
Ehren ein.

Da aber das Bild, aus den Tiefen des Menschen-
lebens geschöpft, auch für die Idee im Weiten

!) Auguste B. Glaize, geboren zu Montpellier 1807, gestorben
zu Paris 1893. In Deutschland. sind seine Werke ganz unbekannt ge-
blieben. Muther begründet seine Nichterwähnung in seiner Geschichte
der „Malerei des 19. Jahrhunderts“ damit, dass er weder Originale noch
Nachbildungen seiner Hauptwerke auffinden konnte.

wirken sollte, übertrug es der Meister selbst auf
den Stein und gab damit Tausenden, was sonst
nur der glückliche Besitzer des Originals geniesst:
das Werk in des Künstlers eigener Handschrift.

Als furchtbare Anklage gegen das Menschen-
geschlecht wirkt die Reihe der Edlen, die dem
verblendeten Undank zum Opfer gefallen sind, von
Christus und Sokrates an bis herab auf die Opfer:
naheliegender Zeiten.

Und schwer legt es sich auf’s Herz, wenn wir die
unheimlichen Wächter und Bedränger der Menschheit
sehen, die, mit der gewaltigen Krait eines Michel-
angelo dargestellt, in grausiger Unerbittlichkeit ihres
Amtes walten. Versöhnend aber wirkt bei aller Tragik
des Bildes im wohlthuenden Gegensatz zu einem
späteren, ganz pessimistischen Werke: „Spectacle
de la folie humaine“— das Ueberwiegen der Gestalten,
grösser als ihr Geschick, mit Christus sprechen:
„Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was
sie thun.“

Die Deutung der Gestalten hat uns der Maler
durch die beigefügten Namen selbst gegeben.

In der Mitte steht Christus, der Grösste der
Märtyrer, der sein göttliches Leben freiwillig dahin-
gab, um die Menschen zu lösen von Sünde und
Schuld. Zu seiner Linken sehen wir Sokrates, den
Schirlingsbecher in der Hand. Zur Rechten scheint
auf dem Oelbild Buddha zu stehen: warum der
Künstler hier an dessen Stelle Homer setzt, ist
unklar; es war wohl die rein künstlerische Rück-
sicht auf harmonische Ruhe der Gruppe, die ihn
zu dieser Verringerung ihres Inhaltes bestimmte,
oder wollte er durch diese Gegenüberstellung an-
deuten, dass nicht einmal die holde Gabe der
Musen einen Freibrief auf das Glück gewährt? —
Welche Thaten und Schicksale einen Dante,
Columbus, Galilei oder Jeanne d’Arc in die Reihe
der Märtyrer versetzte ist von selbst klar. Bei
einigen anderen aber müssen wir die düsteren
Blätter der Weltgeschichte aufschlagen, um des
Künstlers Wahl recht zu verstehen.

Zur Linken vom Beschauer aus eröffnet der
Name des grossen Anatomen Vesal die Reihe: er
war von der Inquisition zum Tode verurteilt, jedoch
zu einer Pilgerfahrt in’s heilige Land begnadigt
worden; als Schifibrüchiger starb er auf Zante in
Hunger und Elend. Dolet erntete als Dank {für
seine Verdienste um den Humanismus und die
Buchdruckerkunst den Feuertod des Ketzers. Denys
Papin, dessen geniale Erfindungen im Gebiet der
Physik heute noch seinen Namen lebendig erhalten,
starb, als Calvinist vertrieben, fern von seinem
 
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