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Monatsberichte über Kunstwissenschaft und Kunsthandel — 2.1902

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Nr. 8
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Haenel, Erich: Constantin Meunier
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https://doi.org/10.11588/diglit.47724#0426

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— 294 —

Constantin Meuniter.
Von Erich Haenel.

...; Die verworrenen Linien der Entwicklung der
Kunst, die für das 19. Jahrhundert charakteristisch
sind, fangen allmählich an sich zu klären.
dem Chaos von Richtungen, Strömungen, Versuchen
und Fortschritten erheben sich einzelne Höhenzüge,
deren überragende Ketten die Ebene durchschneiden,
‚deren: Gipfel uns eine freiere Uebersicht über das
zerwühlte Terrain gestatten. Und die zeitgenössische
Kritik ist nicht müssig, im Hochgefühl der Ent-
.decker diesen Erhebungen den „wissenschaftlichen“
Namen zuzuerteilen, den die Terminologie der
Kunstgeschichte etwa noch nicht bis an die Grenze
seiner Elastizität ausgeweitet hat. Wenn der jüngste
Historiograph der Kunst des Erdballes den Verlauf
dieser ihrer Entwicklungsperiode unter den beiden

Generalnennern „Neubelebung des Volkstums“ und

„Zeit der Wissenschaftlichkeit‘ zusammenfasst, so
mag man wohl Anfangs mit einigem Befremden
als letzte Untertitel der zweiten Rubrik die Schlag-
worte: „Realistische Romantik“ und „Neurealismus“
lesen. Aber der Sinn dieser Einteilung wird sich
bald verständlich machen, indem wir Menzel und
Bastien-Lepage, Uhde und Segantini in der letzten
Klasse begegnen. Künstler, die alle bei der Wieder-
eroberung der Natur in der Front kämpften, denen
nicht das Was? sondern das Wie? im Kunstwerk
an erster Stelle stand, die aus der Tiefe ihres reinen
Menschentums heraus die Sumpfniederungen einer
haltlosen Aesthetik und die Abgründe der sozialen
und Rassengegensätze mit gleicher Unbefangenheit
überschritten: sie bereiten das Feld auch für jene
Kultursprossen der Moderne, die unter der Flagge
des Symbolismus und Neuidealismus die Pforten
zum 20. Jahrhundert aufstossen. Und wenn da-
mals die Kunst der grossen Menge nur als ein
Luxusprodukt erschien, für dessen Konservierung
der Staat und einige Kapitalisten aus Gründen
eines traditionellen Idealismus jährlich gewisse
Summen opfern, so ist heute das Kunstgewerbe
auf dem besten Wege, gleichsam durch die Hinter-
thür der praktischen Bedürfnisse auch der abstrakten
Kunst beim Volke Eingang zu verschaffen. Die
Universalität einer künstlerischen Daseinsatmo-
sphäre, die wir erstreben, wird aber nicht eher ein
unverlierbarer geistiger Besitz sein, bis nicht auch
das Bewusstsein von der Notwendigkeit einer
menschlich-sozialen Reformation Allgemeingut der
Gebildeten geworden ist.

Neben den Bestrebungen der Malerei, die als
„Armeleut-Malerei“ ebensoviel echte Begeisterung

Aus :

wie billigen Spott erweckt haben, hat sich die
Bildnerei nur zögernd auf dies neuerschlossene
Gebiet gewagt. Als der Kriegsruf der Impressio-
nisten über die Vogesen scholl, als dann Courbet’s

tendenziöser Realismus über den Trümmern des

dritten Kaiserreichs emporwuchs, als Menzel im
Jahre 1875 sein Eisenwalzwerk malte, da war die
Plastik auf. ihtem Wege durch die Phasen der
Naturwiedergabe, wie sie die einzelnen Epochen
ihrer Geschichte vertraten, noch nicht zu einem
Ziele gelangt. Man hatte zwar den klassizistischen
Idealismus schonteilweise überwunden, dessen Denk-
mälerflut die deutschen Stadtbilder in schauerlicher
Uniformität überschwemmt hatte, man war, wie Begas
und Tilgner, durch das Studium des Barock zu

‚einer schärferen Durchbildung des Muskelapparates

im menschlichen Körper und einer Art realistischen
Auffassung von temperamentvoller Sinnlichkeit ge-
langt, aber man war noch nicht über das Studium
des Aktes und der idealen Zeugdraperie zu einer
allseitigen Kenntnis der natürlichen Erscheinung
des bekleideten Menschen gediehen. Ein Fortschritt
im Sinne des Naturalismus, der in Frankreich der
Malerei die sinnliche Wiedergabe der gesamten
Wirklichkeit ermöglicht hatte, schien rein theoretisch
undenkbar. Wie liesse sich das Milieu, dieser
Zauberbegriff der neuen Kunst, der den einzelnen
Körper durch die unsichtbaren Fluiden seiner Um-
gebung, durch Luft und Sonne, Schatten und Reflex
in die rezeptive Phantasie des Beschauers zum
Sinnbild einer ganzen landschaftlichen oder zeit-
lichen Gesamtstimmung macht, mit den Mitteln
der plastischen Kunst ausdrücken? Wohl kann
auch diese ein Stück Leben darstellen, aber nur,
wenn es nach Form und Ausdruck in sich abge-
schlossen, ohne Beziehung zu äusseren Momenten
mit der Klarheit seines Umrisses und der Natur-
ähnlichkeit seiner Glieder statuarisch eine Bewegung
eindringlich versichtbart, wird es den Gesetzen
der wahren Skulptur, d. h. der hellenischen, genügen.
Dass diese Anschauung, der die Bildhauer in der
Wahl ihrer Stoffe, aus der Mythologie und Poesie,
und in dem unermüdlichen und nicht erfolglosen
Suchen nach neuen Bewegungsmotiven des nackten
Körpers Ausdruck gaben, etwas Richtiges in sich
schliesst, wird niemand leugnen. Aber hier konnte
man die eigentümliche Erscheinung beobachten, dass
das Was? das Wie? bestimmte. Alle diese Jüng-
linge mit Schwert oder Helm, diese badenden
Mädchen und Nymphen, diese männlichen und
 
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